Therapie, Psychoterapie
Pormezz – stock.adobe.com
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Fast um die Hälfte mehr Essstörungen

Wie sehr junge Menschen unter der Pandemie gelitten haben, zeigt eine kürzlich erschienene internationale Übersichtsarbeit: Schwere Essstörungen haben fast um die Hälfte zugenommen. Wie Experten betonen, sollte man nun herausfinden, welche psychischen Erkrankungen chronisch werden könnten, um das möglichst zu verhindern.

Erst nach und nach stellten sich jetzt die Folgen der Pandemie auf die psychische Gesundheit heraus, hieß es am Montag in einer Aussendung anlässlich des Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin: „Schon jetzt konsistent und in verschiedenen Studien und Erhebungen nachgewiesen, zeigt sich, dass Jugendliche und junge Menschen psychisch stärker belastet waren als ältere, und Frauen mehr als Männer – beispielsweise stiegen die Krankenhauseinweisungen wegen Essstörungen in den Corona-Zeiten um 48 Prozent.“

Die Daten dazu stammen aus einer Übersichtsarbeit von Daniel Devoe, die vor einigen Wochen in „Eating Disorders“ erschienen ist. Die kanadischen Forscher und Forscherinnen hatten die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema zwischen November 2019 und Oktober 2021 systematisch durchforstet. Insgesamt konnten sie zum Thema der Häufigkeit der Essstörungen (z. B. Anorexia nervosa, Bulimie, Binge-Eating) die Daten von 53 Studien mit 36.485 Betroffenen analysieren.

Zunahme durch Belastungen

„Die gepoolten Informationen zu den Krankenhausaufnahmen über alle Studien hinweg zeigten einen Anstieg um 48 Prozent während der Pandemie im Vergleich zur Zeit vor Covid-19 mit verschiedenen Zeitmesspunkten“, heißt es in der Arbeit. Das sei in 19 wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden, ein Anstieg von Angstzuständen in neun Untersuchungen und mehr Fälle von Depressionen in acht Studien. Die Zunahmen seien aber auch abhängig von der Diagnosestellung und von ihrem Zeitpunkt. So hätten auch die Lockdowns eine Rolle gespielt.

Anorexia nervosa ist zu 80 Prozent heilbar. Es gibt aber auch eine Mortalität von jährlich 0,5 Prozent. „Grundsätzlich rufen belastende Ereignisse wie Angst vor Ansteckung und Tod, finanzielle Sorgen, soziale Isolation und Überforderung, zum Beispiel durch Parallelität von Beruf und Kinderbetreuung während der Schulschließungen, psychische Reaktionen hervor – das ist zunächst einmal normal und kein Zeichen einer psychischen Störung“, sagte dazu Stephan Herpertz, Präsident des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin und Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bochum. „So mehren sich aktuell die Hinweise, dass die Dynamik der psychischen Reaktionen unmittelbar dem infektionsepidemiologischen Geschehen zu folgen scheint – also mit abnehmenden Fallzahlen auch die psychischen Belastungen zurückgehen.“

Junge psychisch belastet

Relativ konsistent zeige sich über verschiedene Studien und Erhebungen hinweg, dass junge Menschen in der Pandemie psychisch stärker belastet waren. „So haben sich beispielsweise mehr junge Menschen und mehr Frauen als Männer während der Lockdowns einsam gefühlt“, sagte Hans-Christoph Friederich, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Allerdings: Einsamkeit sei bereits vor der Pandemie ein weit verbreitetes, aber kaum adressiertes Phänomen gewesen, dessen gesundheitliche Folgen noch viel zu wenig bekannt und beachtet seien.

In der kanadischen Studie hätte sich sowohl ein Anstieg von Angstzuständen und Depressionen als auch eine Verschlechterung bereits bestehender Essstörungen gezeigt, stellten die deutschen Experten fest. „Ausschlaggebend war dabei vor allem die Trias aus Verlust der Tagesstruktur, Rückgang sozialer Beziehungen und der häufig kompensatorisch gesteigerte Konsum von digitalen Medien“, erklärte Herpertz.

Wichtig für die Aufarbeitung und den Umgang mit den psychischen Folgen der Pandemie sei, momentan vor allem zu eruieren, welche psychischen Belastungen oder Erkrankungen eine Tendenz zur Chronifizierung hätten und wie man das am besten verhindern könne. „Außerdem hat die Pandemie noch einmal ein Schlaglicht auf bereits lange bestehende Problematiken geworfen: Die Unterversorgung und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz etwa, aber auch kaum beachtete, jedoch sehr relevante gesamtgesellschaftliche Probleme wie Einsamkeit, die auf gesellschaftlicher, kommunaler und individueller Ebene besser angesprochen und auch in der Gesundheitsversorgung erfasst werden müssen“, so Friederich.