Die frühe Ausaperung der Gletscherzungen hat sich bis in die Gipfelregionen fortgesetzt und führt nun vor allem in der Höhe zu extremen Schmelzraten. Seit Anfang Juli sehen die Gletscher durch den geringen Anteil der schneebedeckten Flächen schon jetzt so aus wie bisher in extremen Jahren am Ende der Schmelze Mitte bis Ende September.

Über Autorin und Autor
Andrea Fischer ist stv. Leiterin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck, Hans Wiesenegger Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg.
In der dritten Juliwoche nähern wir uns dem durchschnittlichen Massenverlust der letzten Jahre. Auch im Vergleich zum extremen Gletschersommer von 2003 sind wir etwa vier Wochen voraus. Noch liegen aber mindestens zwei Monate vor uns, in denen die Gletscher Substanz verlieren. Das ist eine durch die Messungen der letzten 70 Jahre, aber auch in historischen Quellen noch nie dokumentierte Situation.
Die über Jahrzehnte genau vermessenen Massenbilanzgletscher liefern erste Zahlen, um den heurigen Gletschersommer einzuordnen: In den obersten Höhenzonen ist teils bereits so viel geschmolzen wie in den bisher extremsten Jahren, am Jamtalferner in der österreichischen Silvretta über ein Meter Eis, am Griesgletscher in der Schweiz eineinhalb Meter.
Normalerweise finden wir in diesen Höhenlagen, über 3.000 Meter, zu diesem Zeitpunkt des Sommers noch etwa zwei Meter Schnee vor. In den Zungenbereichen halten wir am Jamtalferner bei etwa einem Drittel des bisher extremsten Schmelzbetrags. Mathias Huss, der Leiter des Schweizer Gletschermessdienstes, ist durch die Situation alarmiert, da die Alpengletscher in einem Zustand sind, wie er zuvor noch nie beobachtet wurde:
Am 21.7.2022 war der Jamtalferner/Silvretta weitgehend schneefrei, im Vorjahr war die gesamte im Bild sichtbare Eisfläche noch mit Schnee bedeckt. Die rasche Ausaperung kann auf foto-webcam.eu mitverfolgt werden.

Welche Folgen hat die extreme Schmelze?
Da große Teilbereiche der Gletscher bereits in den letzten Jahren dünn geworden sind, kann man für diesen Sommer starke Flächenverluste erwarten. Im Unterschied zu den bisherigen Extremjahren werden die Gletscher nicht nur kürzer, sondern zeigen deutliche Zerfallserscheinungen auch in den obersten Teilbereichen. Insbesondere in den oberen Bereichen und in Steilbereichen sind unsere Gletscher oft nur wenige Meter dick.
In den letzten Wochen sind vor allem in den ehemaligen Firngebieten Felsinseln an der Oberfläche sichtbar geworden, wie zum Beispiel am Stubacher Sonnblickkees, wo das Herausschmelzen der Felsinseln auch mitverfolgt werden kann.

Hohe Gefahr von Steinschlag…
Aus dem Eis auftauchende dunkle Streifen (siehe Bild unten) kündigen das baldige Abschmelzen dieser Bereiche an. Dadurch kommt Schutt an die Oberfläche, der in Folge auf den Eisresten abrutschen kann. Der dadurch ausgelöste Steinschlag kann darunterliegende Routen gefährden. Wenn auch das Auftreten zu Zeiten hoher Schmelze wahrscheinlicher ist, also vom späten Vormittag bis zum späten Nachmittag und bei direkter Sonneneinstrahlung, kann Steinschlag prinzipiell jederzeit stattfinden. Gefahrenstellen kann man an der dunklen Färbung erkennen. Eine Verbesserung der Situation ist erst wieder durch ein Gefrieren der Oberfläche erwartbar.

Auch an den Karrückwänden, die bisher unter Eis lagen, lösen sich derzeit immer wieder kleinere und größere Felsstürze. Auf steilen Eisflächen können diese Blöcke entsprechend weit rutschen, wobei oft auch Eisschollen aus dem Gletscher geschlagen werden, die zusätzliche Verletzungsgefahr bergen. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass Niederschläge diese Art die Massenbewegung begünstigen, können auch diese Ereignisse rund um die Uhr auftreten.
…und Eisstürzen
Die bisher relativ stabilen hochgelegenen Kleingletscher erfahren einen massiven Schmelzwassereintrag. Dadurch wird das Gletscherbett geschmiert, und es kommt zum Abrutschen dieser Gletscher. An der Oberfläche sind diese Vorgänge durch ein deutliches Absetzen der Gletscheroberfläche von der Kante des Bergschrundes sichtbar, sowie durch das Bilden neuer Spalten. Das Schmelzwasser kann auch Moränenmaterial von der Gletscherbasis erodieren, was ebenfalls zu Instabilitäten führt. Befliegungen zeigen, dass, ähnlich wie am Marmolata-Gletscher, auch in den österreichischen Alpen Eisstürze stattfinden, die glücklicherweise bisher keine Personenschäden zur Folge hatten. Auch aus den Schweizer Alpen werden weitere Eisstürze gemeldet, etwa vom Alphubel:
Die schon aus den letzten Jahren bekannte Bildung der Einbruchstrichter durch die Schmelze an der Gletscherbasis der Pasterze am Großglockner setzt sich an den Zungen fort:

Mittlerweile sind viele Gletscher und auch höhere Gletscherteile von diesem Phänomen betroffen. Grund dafür ist, dass sich mit zunehmender Dauer der Schmelze der Abfluss immer mehr von der Gletscheroberfläche in Kanäle im und unterhalb des Gletschers verlagert. Durch die lange Dauer der Schmelze in den obersten Höhenzonen kommt es heuer erstmals zu signifikanten Abflüssen an der Gletscherbasis auch in Regionen, in denen sich durch die bisher kurze Schmelzdauer die Abflüsse eher in Kanälen an der Oberfläche abgespielt haben. Das nach oben Wandern der Gletschermühlen konnte man in den letzten Jahren gut beobachten.
Hochwasser bei den Gletscherbächen
Viele Gletscherbäche, wie zum Beispiel der Obersulzbach, haben derzeit eine extrem hohe Wasserführung, die uns über den Sommer, solange es in der Nacht nicht gefriert, erhalten bleiben wird. Da der Wasserstand teils den Bereich der einjährlichen Hochwassermarke erreicht, muss man bei Bergtouren darauf achten, ob man bei den Gletscherbächen am Nachmittag, wenn der Abfluss den höchsten Stand erreicht, noch den Rückweg antreten kann.
Brücken können unpassierbar werden, insbesondere, wenn durch Gewitter Starkniederschläge niedergehen. Sind Holzbrücken schon in der Früh nass, kann das ein Hinweis darauf sein, dass sie am Nachmittag im Wasser liegen. Auch auf die Stabilität der Brücken muss man derzeit achten, die Gletscherbäche haben eine hohe Schleppkraft und können kleine Felsen, auf denen Brücken gelagert sind, auch bewegen. Sollte man einen Gletscherbach nicht überqueren können und kein anderer Weg möglich sein, hilft es oft zu warten, der Wasserpegel sinkt ab dem späteren Nachmittag wieder ab.

Wie geht es heuer weiter?
Im Jahr 2003 konnte man einige der heuer auftretenden Phänomene bereits beobachten, unter anderem das Beschleunigen und Absinken der obersten Bereiche. 2003 dauerte die Schmelze in den obersten Bereichen allerdings nur ein bis zwei Wochen, und die damals aufreißenden Gletscherspalten hatten sich schon im nächsten Jahr wieder geschlossen. Damals erlebten die Gletscher Österreichs erstmals bis in die Gipfelregionen Massenverluste, es kam zu einer Beschleunigung der Eisbewegung mit starker Spaltenbildung.
Ob die nun über längere Dauer zu erwartenden Schmelzwassereinträge in den obersten Teilbereichen zu einer Destabilisierung führen oder nicht, wird man erst in den nächsten Wochen sehen. Die Situation an den Gletschern wird sich in den nächsten zwei Monaten voraussichtlich nicht verbessern. Zwischen Anfang und Mitte August findet in normalen Jahren die maximale Ausaperung statt, erst danach konnten wir in den letzten Jahren immer wieder Schneefälle beobachten, die zum kurzzeitigen Stillstand der Schmelze führten. An der Pasterzenzunge bleibt es spannend, die Verbindung zwischen dem oberen und dem unteren Teil zeigt etwas Eisschlagaktivität, aber keine Destabilisierung.
Was tun?
Wir GletscherforscherInnen versuchen bei den Messungen mit den extremen Schmelzraten Schritt zu halten und in ‚Notfallaktionen‘ die Messungen trotz der zunehmend schwierigen Verhältnisse aufrecht zu halten.
Wenn uns schon die Gletscher der Ostalpen unter den Fingern zerrinnen, wollen wir zumindest diese Prozesse und auch die potenziellen Gefahren besser verstehen, um für die nächsten Jahre gerüstet zu sein.
Auch das Klimaarchiv ist extrem gefährdet, hier bemühen wir uns in nächtlichen Messkampagnen zu retten, was zu retten ist. 6.000 Jahre Klimawissen muss auch für die nächsten Generationen erhalten werden, sie werden es brauchen.
Einige der Gletscher, die wir beforschen, werden am Ende des Jahres deutlich anders aussehen, damit sind auch einige der Zeitreihen zur Erfassung der Auswirkungen des Klimawandels bedroht. Damit verlieren wir die Gletscher als essenzielle Klimavariable und verlassen das uns bekannte Klimaregime.
Langfristig muss die letzte Stunde der Alpengletscher noch nicht geschlagen haben. Ab 2050 kann das extreme Abschmelzen, das wir mit den jetzigen Treibhausgasemissionen für 30 Jahre fixiert haben, verringert und bis 2100 sogar gestoppt werden, wie eine Animation der Schweizer KollegInnen zeigt.