Wale müssen nordwärts wandern

Die Lebensräume der arktischen Wale werden sich bis zum Ende des Jahrhunderts knapp 250 Kilometer nach Norden verschieben: Das prognostiziert ein internationales Forschungsteam. Die Tiere müssen auf die steigenden Wassertemperaturen reagieren – bleiben aber auch weiter nördlich von menschlichen Aktivitäten beeinträchtigt.

Wale auf der ganzen Welt sind in einer prekären Situation. Auch wenn die Tiere im Vergleich zu früher kaum noch kommerziell bejagt werden und sich einzelne Populationen wieder langsam erholen – etwa die Finnwale in der Antarktis -, werden die Lebensräume für sie immer ungemütlicher.

Hitzewellen im Meer

Dabei machen den Tieren nicht nur die allgemein steigenden Temperaturen zu schaffen, sie sind auch wie Menschen immer wieder mit besonders heißen Perioden in Form von Hitzewellen konfrontiert. „Derzeit ist das etwa im Mittelmeer der Fall, wo wir gegenwärtig Temperaturen über 28 Grad Celsius verzeichnen“, sagt der Meeresbiologe Gerhard Herndl von der Universität Wien gegenüber science.ORF.at.

Sollten das aktuelle Wetter und die Hitze an Land anhalten, könnten die Wassertemperaturen des Mittelmeers bis Ende August auf über 30 Grad ansteigen. Herndl: „Das hat natürlich Folgen für die dort lebenden Tiere und führt zu Stress bei allen Meeresorganismen, die nicht an das warme Wasser gewöhnt sind.“

Studie untersucht arktische Walarten

Die Klimaerwärmung führe dazu, dass Fische und andere Meeresbewohner in für sie angenehmere und kältere Umgebungen übersiedeln – also in Richtung Norden. Darüber ist man sich laut Herndl in der Wissenschaft schon lange einig. Wie stark sich die Lebensräume bestimmter Meeresorganismen aber künftig tatsächlich verschieben, sei in vielen Fällen noch nicht im Detail erforscht.

Internationale Forscherinnen und Forscher um die Meeresbiologin Philippine Chambault vom Greenland Institute of Natural Resources haben nun die Lebensräume arktischer Walarten genauer unter die Lupe genommen. Sie wollten herausfinden, wie gut die gigantischen Säugetiere mit den steigenden Wassertemperaturen zurechtkommen und wo sie in Zukunft wahrscheinlich zu finden sein werden. Das Ergebnis der Untersuchung präsentiert das Forschungsteam aktuell im Fachjournal „Science Advances“.

Relativ wenig Wanderbewegungen

Die Forscherinnen und Forscher nutzten Satellitenaufnahmen aus 28 Jahren und von knapp 230 Walindividuen und untersuchten die Lebensräume und Wanderrouten der einzelnen Grönland-, Beluga- und Narwale.

Herndl war an der Studie nicht beteiligt, arbeitet aber selbst an internationalen Projekten, die sich mit der Thematik befassen. Er erklärt: „Die Wale in arktischen Gewässern wandern unterm Jahr im Vergleich zu anderen Walarten relativ wenig. Sie folgen meist nur ihrer Nahrung, bleiben dabei aber grundsätzlich in den kälteren Umgebungen.“ Die Orte, an denen sich die arktischen Wale im Sommer aufhalten, sind also vergleichsweise nahe an ihren Lebensräumen für den Winter.

Die Fachleute versorgen einen Grönlandwal mit einem Sender
Kit M. Kovacs
Die Fachleute bringen an einem Grönlandwal einen Sender an

Lebensraum: Verluste stärker als Zuwachs

Das Team um Chambault hat anhand von Modellen prognostiziert, wie sehr sich die Lebensräume der Grönland-, Beluga- und Narwale tatsächlich in Richtung Norden verschieben könnten. Dazu nutzten die Forscherinnen und Forscher die Satellitendaten der Wale und modellierten sie anhand von zwei Klimaszenarien – einmal mit einem Einhalten des Zwei-Grad-Klimaziels bis 2100 und einmal ohne eine Reduktion der Treibhausgasemissionen.

In beiden Szenarien prognostiziert das Team, dass die verfügbaren Lebensräume schrumpfen – zumindest im Sommer. So könnte sich ohne zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen die Größe der für die Wale geeigneten Sommerhabitate bis zu einem Viertel verringern – und das bis zum Ende des Jahrhunderts.

Bei den Winterhabitaten der arktischen Wale prognostizieren die Forscherinnen und Forscher hingegen sogar einen minimalen Zuwachs von bis zu drei Prozent. Dass die gigantischen Säugetiere im Winter ein bisschen mehr Platz haben, gleiche die Verluste im Sommer aber bei Weitem nicht aus. „Das führt natürlich zu ernsten Sorgen, ob die Walarten mit dem Verlust ihrer kalten Lebensräume künftig zurechtkommen“, erklärt die Erstautorin der Studie, Philippine Chambault.

Verschiebung um bis zu 250 Kilometer

Die steigenden Temperaturen sorgen laut der Prognose dafür, dass die Winterhabitate der arktischen Wale im Schnitt rund 120 Kilometer weiter nördlich liegen werden. Im Sommer könnten sich die Lebensräume demnach sogar um knapp 250 Kilometer nordwärts verschieben.

Herndl gibt dabei zu bedenken: „Die Wale, die in der Arktis vorkommen und dort leben, können irgendwann nicht mehr weiter in den Norden.“ Gleichzeitig kommen aus dem Süden immer weitere Arten nach, die sich ebenfalls in kühlere Umgebungen flüchten. Die Folge sei ein genereller Wandel der marinen Ökosysteme und wahrscheinlich auch der Wegfall bestimmter Arten, die sich nicht schnell genug an die neuen Gegebenheiten anpassen können.

Kein Entkommen vor Menschen

Eine zusätzliche Gefahr für die arktischen Wale ist laut Herndl der Mensch. Die schmelzende Arktis mache das Gebiet auch wirtschaftlich interessant. Dabei sorgt nicht nur die Fischerei für fehlende Nahrung, auch die seismische Suche nach fossilen Brennstoffen störe die Tiere sehr.

„Da wird mit Schallwellen gearbeitet, auf die die Wale mit ihrem guten Gehör sehr empfindlich reagieren“, so Herndl. Die düstere Prognose des Meeresbiologen: „Es gibt hier kein wirkliches Entkommen für diese Meeresorganismen. Die können zwar nach Norden ziehen, aber wir werden dort auch bald verstärkte menschliche Aktivitäten haben.“

Auswirkungen bereits deutlich

Die Prognose des Teams um Chambault ist laut Herndl wichtig, um einmal mehr aufzuzeigen, mit welchen großen Herausforderungen die Wale im Norden konfrontiert sind. Das Thema sei jedoch sehr komplex, was das Erstellen allgemeingültiger Prognosen erschwert.

Der Meeresbiologe: „In der Studie wurde zum Beispiel nicht berücksichtigt, dass mit den steigenden Temperaturen auch Eis schmilzt und sich die Wassermassen dadurch verändern. Außerdem könnte es – wie schon in früheren Studien mehrfach prognostiziert – zum Beispiel zu einem Abflauen des Golfstroms kommen. Das würde die Meerestemperaturen natürlich auch maßgeblich beeinflussen und das Ergebnis der aktuellen Prognose verändern.“

Klar sei aber, dass die steigenden Wassertemperaturen den Lebewesen im Meer schon jetzt zu schaffen machen und für deutliche Verschiebungen der Lebensräume sorgen. „Viele Arten, die man sonst nur aus subtropischen Regionen kennt, findet man bereits in der Nordsee“, so Herndl.

Schutz der Wale = Klimaschutz

Das Errichten von Schutzzonen für die Wale und ein Monitoring der Bestände hilft laut Herndl zwar mittelfristig dabei, die Tiere zu unterstützen. Langfristig gebe es aber nur eine effektive Maßnahme: eine deutliche Reduktion der Treibhausgasemissionen.