Milch wird aus einer Flasche in ein Glas gegossen
Thitiwut/stock.adobe.com
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Laktosetoleranz

So wurde Milch für Europäer bekömmlich

Der Konsum von Milch war in Europa schon vor 9.000 Jahren weit verbreitet, obwohl die meisten steinzeitlichen Menschen sie damals gar nicht gut verdauen konnten. Das stellt laut einer neuen Studie gängige Theorien in Frage, warum sich eine genetische Anpassung, die Milch bekömmlicher macht, in unseren Breiten durchgesetzt hat. Wichtige Rollen könnten Hunger und Krankheiten gespielt haben.

Milch ist eigentlich schwer verdaulich. Dennoch können die meisten Europäer und Europäerinnen heute ohne Probleme Milch trinken – anders als zwei Drittel der erwachsenen Weltbevölkerung: Bei ihnen führt der Verzehr des nahrhaften Lebensmittels zu Blähungen, Krämpfen und Durchfall.

Ein spezielles Enzym im Darm, die Laktase, hilft bei der Aufspaltung des Milchzuckers, der Laktose. Die allermeisten Babys sind dazu in der Lage, aber im Lauf der Jugend schwindet die Laktosetoleranz beim Großteil der Menschen. Nur dort, wo schon lange viel Milch getrunken oder in Form von Käse, Butter und anderen Produkten verzehrt wird, bleibt die Fähigkeit auch im Erwachsenenalter erhalt, etwa in Europa, in Zentral- und Südasien, im mittleren Osten und in manchen Regionen Afrikas.

Eine entsprechende genetische Anpassung habe in den vergangenen 10.000 Jahren vielerorts stattgefunden, schreiben die Forscherinnen und Forschern um Richard P. Evershed von der University of Bristol in ihrer soeben im Fachmagazin „Nature“ erschienen Studie.

Selektionsdruck für Milchverdauung

Die gängige Erklärung: Überall, wo mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor mehr als 10.000 Jahren auch mehr Milch getrunken wurde, gab es einen hohen evolutionären Anpassungsdruck. Die für die Laktosetoleranz vorteilhafte Mutation habe sich durchgesetzt, damit die Menschen die nahrhaften Produkte ohne gesundheitliche Probleme verwerten konnten.

In Zentral- und Nordeuropa sei das besonders notwendig gewesen, lautet eine beliebte These zum Selektionsdruck. Denn der Lichtmangel führte zu einem Vitamin-D-Defizit, was wiederum schlecht für die Aufnahme von Kalzium ist. Die kalziumreiche Milch, die auch Spuren von Vitamin D enthält, schaffte einen Ausgleich. Für andere Weltregionen scheinen alternative Erklärungen plausibler, etwa für Afrika und Südasien, wo es das ganze Jahr über ausreichend Sonne gibt: Milch könnte sich dort als relativ keimfreie Flüssigkeit durchgesetzt haben.

Das Team um Evershed und Co. stellt nun all diese Thesen, wonach der reine Konsum von Milch so einen hohen Selektionsdruck erzeugt habe, in Frage. Denn die entsprechende Mutation sei erst lang nach den Anfängen der Milchwirtschaft aufgetaucht – vor ungefähr 6.700 Jahren – und habe sich noch viel später durchgesetzt – vor ca. 3.000 Jahren. Das ergab eine Erbgutanalyse von 1.700 prähistorischen Individuen aus Asien und Europa.

Prähistorischer Milchkonsum

Für ihre Arbeit haben sich die Forscherinnen und Forscher auf die Spuren des prähistorischen Milchkonsums begeben. Sie haben eine umfangreiche Datenbank von Funden erstellt: Sie enthält Daten zu fast 7.000 Überresten von Tierfetten auf Tausenden Keramikfragmenten von 554 Fundstellen. Die Funde decken einen Zeitraum von mehr als 8.000 Jahren ab. Die ältesten darin enthaltenen Milchspuren sind fast 9.000 Jahre alt und stammen aus Anatolien.

Danach hat sich der Milchkonsum in Europa regional recht unterschiedlich entwickelt. In manchen Regionen, etwa am Balkan, wurde schon bald sehr viel Milch konsumiert und weiterverarbeitet. In anderen wie in Nordgriechenland gibt es lange Zeit gar keine Belege. Auch in Nordeuropa finden sich schon frühe Spuren für eine intensive Milchnutzung, etwa aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. aus Großbritannien. Auch in Dänemark und Finnland gab es schon 4.000 bzw. 3.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung Milchwirtschaft.

Überraschende Erkenntnis

Um die Funde mit der Verbreitung der Laktosetoleranz in der Bevölkerung in Zusammenhang zu bringen, wurden die Daten der Funde mit den prähistorischen genetischen Daten zur Laktosetoleranz abgeglichen. Überraschenderweise stellten die Studienautoren und -autorinnen fest, dass die historische Entwicklung sowie die Intensität der Milchnutzung anscheinend nichts damit zu tun hatte, wie schnell sich die entsprechende Mutation in der jeweiligen Bevölkerung verbreitet.

Demnach hat der Milchkonsum an sich keinen Anpassungsdruck erzeugt. Wie die Hauptautoren der Studie in einer virtuellen Pressekonferenz erklären, war dieses Ergebnis zuerst ein Schock. Denn, so Koautor und Genetiker Mark Thomas vom University College London: „Die Laktosetoleranz hat sich genetisch nämlich unglaublich schnell durchgesetzt. Es muss also einen sehr hohen Selektionsdruck gegeben haben, der den Menschen entscheidende Vorteile verschafft hat.“ Mit den neuen Erkenntnissen komme keine einzige der gängigen Erklärungen mehr dafür in Frage.

Milch auch ohne Enzym verwertbar

Auf der Suche nach alternativen Antworten hat das Forschungsteam anschließend Daten von mehr als 300.000 heute lebenden Menschen zu Laktoseverträglichkeit analysiert. Sie stammen aus der UK Biobank. Dabei zeigte sich, dass Menschen ohne die entsprechende genetische Anpassung fast genauso viel Milch konsumieren wie laktosetolerante Personen, offensichtlich ohne schwerwiegende gesundheitliche Folgen.

Laktoseintolerante waren auch nicht schlechter mit Vitamin D oder anderen Nährstoffen versorgt. Auch andere physiologische Vorteile einer guten Milchverwertung konnte die Forscher nicht verifizieren. Dass die genetische Anpassung nicht unbedingt notwendig ist, zeige auch ein Blick ins heutige China, heißt es in der Studie. Dort fehlt den meisten Menschen das Verdauungsenzym, dennoch werden mittlerweile große Mengen an Milchprodukten verzehrt.

Das heißt, Milchkonsum mag vielleicht unangenehme Begleiterscheinungen haben, krank macht er nicht. Wie es Koautor Davey Smith in einer Aussendung ausdrückt: „Wenn man gesund und laktoseintolerant ist und viel Milch trinkt, bekommt man wahrscheinlich ein paar Beschwerden, aber sterben wird man nicht daran.“ Wenn die Beschwerden nicht zu unangenehm sind, könnten laktoseintolerante Personen durchaus mehr Milch trinken als sie das vielleicht tun, so die Autoren bei der Pressekonferenz, vorausgesetzt man klärt vorher ab, ob sie nicht andere Ursachen haben, etwa eine Kuhmilchallergie oder eine entzündliche Darmerkrankung.

Schwieriges Bauernleben

Warum aber besitzen dann dennoch relativ viele Menschen die genetische Anpassung zur Milchverdauung? Insbesondere in Gegenden, wo traditionell viel Milch konsumiert wird? Wie die Forscherinnen und Forscher am Ende ihrer Studie ausführen, müssen zusätzliche Faktoren den hohen Selektionsdruck für die Laktosetoleranz befördert haben.

Die Landwirtschaft habe das Leben der frühen Europäer sehr verändert: Die Bevölkerungsdichte und die Mobilität nahmen zu, schlechte Hygienebedingungen, Ernteausfälle und die Nähe zu Tieren führten immer wieder zu Hungersnöten und Krankheiten, besonders Zoonosen machten den Menschen damals zu schaffen – mehr als die Hälfte der bekannten Infektionskrankheiten stamme von Tieren.

Hunger und Krankheit

Unter solchen misslichen Umständen und in einer mangelversorgten Bevölkerung könnte die unverarbeitete stark laktosehaltige Milch tatsächlich zum Problem geworden sein, so die Autoren und Autorinnen. Zum einen weil mangels anderer Lebensmittel in Hungersnöten besonders viel davon konsumiert wurde, zum anderen weil die Unverträglichkeit bereits kranken Menschen schwer zu schaffen machen kann. „Wenn man ernsthaft unterernährt ist und Durchfall hat, kann man schnell lebensbedrohliche Probleme bekommen. Trinken laktoseintolerante Individuen Milch, sammelt sich die Laktose im Darm und zieht Flüssigkeit. In der Kombination kann das schnell zu Dehydrierung führen“, erklärt Davey Smith.

Um die neue These zu testen, wurden Indikatoren für Hungersnöte und Krankheiten im statistischen Modell ergänzt, z. B. Änderungen bei der Bevölkerungsgröße und -dichte. Laut dem Team stand die genetische Variante für Laktosetoleranz in Hungerzeiten und während Krankheitswellen tatsächlich unter einem höheren natürlichen Selektionsdruck. Dann starben laktoseintolerante Menschen häufiger, oft schon in der Kindheit oder noch bevor sie sich fortgepflanzt hatten. So habe sich die genetische Anpassung an die Laktose schubweise und rasch durchgesetzt.