Geschichte

Sozialhistoriker Michael Mitterauer gestorben

Der Wiener Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer ist am Donnerstag (18. August) nach langer schwerer Krankheit 85-jährig gestorben. Das teilte die Universität Wien, an der er jahrzehntelang tätig war, am Mittwoch mit.

Nicht Staaten, Herrscher und bedeutende politische Ereignisse standen im Mittelpunkt seines Interesses, sondern vielmehr die „Geschichte der kleinen Lebenswelten“, der Menschen und ihres Alltags.

Michael Mitterauer
Universität Wien
Michael Mitterauer

„Michael Mitterauer war ein begeisterter Historiker, der seine Faszination für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen in seinen Texten, Büchern, Vorträgen und vor allem auch im universitären Unterricht sehr lebendig vermitteln konnte“, heißt es in einem auf der Website des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien veröffentlichten Nachruf. Ein Leitmotiv, das für sein Agieren im wissenschaftlichen Feld ebenso prägend war wie für seine geschichtswissenschaftlichen Themen und Zugänge, sei „die Bedeutung von Freiräumen, von Räumen, die gestaltbar waren, von offenen Denk- und Diskussionsräumen“ gewesen.

Von Adelsgeschichte …

Mitterauer wurde am 12. Juni 1937 in Wien geboren. Sein Geschichtsstudium schloss er 1960 mit der Promotion sub auspiciis praesidentis ab. Nach Forschungsaufenthalten etwa in München habilitierte er sich 1968 an der Uni Wien, 1971 wurde er ebendort im Zusammenhang mit dem Lehrplan für das erweiterte Schulfach „Geschichte und Sozialkunde“ auf die neu geschaffene außerordentliche Professur für Sozialgeschichte berufen. Von 1973 an war er ordentlicher Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2003 emeritierte er.

Seine frühen Forschungen widmeten sich noch der Geschichte von Adelshäusern und Potentaten. So lautet der Titel seiner ersten Publikation „Slawischer und bayerischer Adel am Ausgang der Karolingerzeit“ (1960). Später wandte sich sein Interesse immer mehr den „einfachen Leuten“ zu, deren spezifischen Problemen und Krankheiten, ein damals beinahe revolutionäres Geschichtsbild.

… zu Oral History

„Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit, mit der die Menschen sich die Welt aneignen“, interessiere ihn, sagte er einmal. Dementsprechend standen Familienbeziehungen immer wieder im Mittelpunkt seiner Arbeiten, andere Forschungen drehten sich etwa um Beziehungen Bauern-Gesinde oder um Arbeiter. Mit Forschungsarbeiten wie „Vom Patriarchat zur Partnerschaft“ (1977), „Ledige Mütter“ (1983), „Sozialgeschichte der Jugend“ (1986) oder „Geschichte der Familie“ (2003) wurde er auch über sein Fach hinaus international bekannt.

Der Historiker dehnte seine Forschungen immer mehr in die Gegenwart aus, wenn möglich setzte er dabei „Oral History“ ein, also die Befragung von Zeitzeugen. Darüber hinaus ortete er auch persönliche Aufzeichnungen von Mitgliedern städtischer und ländlicher Bevölkerungsgruppen als Geschichtsquelle.

Begründer der „historischen Anthropologie“

Bereits Anfang der 1980er-Jahre gründete Mitterauer die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, die seitdem Lebenserinnerungen und andere Selbstzeugnisse sammelt. Seit 1983 erscheint unter dem Titel „… damit es nicht verloren geht“ eine eigene Reihe solcher autobiografischer Texte, die nicht dem Interesse an der großen Persönlichkeit entspringen, sondern am Leben der Dienstboten, Bauern und Arbeiter.

Für eine Sicht der Geschichte, die nicht die bedeutenden politischen Ereignisse in den Vordergrund stellt, sondern die alltägliche Lebensbewältigung der Menschen zum Gegenstand der Forschung macht, sind solche Quellen unentbehrlich. Mit diesem Forschungsansatz gilt Mitterauer als Begründer der „historischen Anthropologie“.

Vielfach ausgezeichneter Autor

Stark engagiert hat sich der Historiker beim Aufbau seines Fachs in Mittel- und Osteuropa. Engen Kontakt hielt er auch zu den Balkanländern, einem Gebiet, das er auch schwerpunktmäßig in seinen Forschungen beleuchtete. Mit seinen Analysen über das Geschichtswissen des Briefbombenattentäters Franz Fuchs wurde er auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Der Historiker war Autor oder Co-Autor von mehr als 20 Büchern zur europäischen Sozial-, Familien-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, deren Großteil in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt widmete er sich der Geschichte des Jakobsweges („St. Jakob und der Sternenweg: Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt“, 2014).

Für sein Buch „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ (2003) und für sein Lebenswerk wurde er 2004 mit dem Deutschen Historikerpreis ausgezeichnet. 2007 erhielt er mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst die höchste Auszeichnung, die die Republik für wissenschaftliche Leistungen vergibt, verbunden damit war die Aufnahme in die Kurie für Wissenschaft. Seit 2002 wird der anlässlich des 65. Geburtstags des Historikers gestiftete Michael-Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte an junge Historiker verliehen.