Natürliche und künstliche Embryonen zeigen kaum Unterschiede
Amadei and Handford
Amadei and Handford
Biomedizin

Embryonen ohne Ei, Samen und Gebärmutter

Künstliche Embryonen von Mäusen, die ganz ohne Ei- und Samenzellen auskommen und auch keine Gebärmutter brauchen: Dieser biomedizinische Durchbruch ist einer internationalen Forschungsgruppe gelungen. Die Kunstembryonen reiften bis zur mittleren Schwangerschaft und entwickelten Gehirn, Herz und Darm.

Das sei ein großer Fortschritt, um künftig etwa künstliche Organe für Transplantationen herzustellen, schreiben die Entwicklungsbiologin Magdalena Zernicka-Goetz und ihr Team vom California Institute for Technology und der Universität Cambridge in der Fachzeitschrift „Nature“. Die Forschung wirft aber auch eine Reihe ethischer Fragen auf – denn die Technik ist im Prinzip auch auf den Menschen anwendbar.

Ambivalente Einordnung

Der Tenor in der Wissenschaftswelt ist dementsprechend ambivalent – und reicht von Euphorie bis Zurückhaltung. „Diese Ergebnisse werden weitreichende Konsequenzen für die moderne Wissenschaft haben“, kommentiert etwa der deutsche Humangenetiker Malte Spielmann. Von einer „technologischen Revolution“ spricht der spanische Molekularbiologe Lluis Montoliu. Die Entdeckung erinnere an das erste Klonschaf Dolly von 1997 oder an die erste Beschreibung von Stammzellen, die aus Körperzellen stammend in einen embryonalen Status rückprogrammierbar sind (ipS-Zellen), im Jahr 2006 und die später mit dem Nobelpreis gewürdigt wurden.

Auf der anderen Seite stehen ethische Fragen. Der Bioethiker und evangelische Theologe Ulrich Körtner etwa betont die Klärung der Frage, „welchen ontologischen, rechtlichen und moralischen Status synthetische Embryonen im Vergleich zu herkömmlichen, aus Ei- und Samenzellen erzeugten Embryonen haben“. Bestehende Gesetze wie das österreichische Fortpflanzungsmedizingesetz würden sie gar nicht umfassen. Die Grundsatzfrage laute, „ob die notwendige ethische und die gesellschaftliche Debatte mit dem rasanten Tempo der Forschung noch Schritt halten kann“, so Körtner gegenüber science.ORF.at.

Fast die Hälfte einer Schwangerschaft erreicht

Grundlage für die künstlichen Mäuseembryonen waren nicht Ei- und Samenzellen wie bei der natürlichen Variante, sondern drei verschiedenen Arten von Stammzellen – Körperzellen, die sich in verschiedene Zelltypen oder Gewebe ausdifferenzieren können. Aus einer Mischung dieser Stammzellen stellten die Forscherinnen und Forscher eine neue biologische Struktur her, die sie in einem Inkubator reifen ließen. Diese künstliche Gebärmutter wurde vom Stammzellforscher Jacob Hanna am Weizmann-Institut in Israel entwickelt, sein Team berichtete vor Kurzem in der Zeitschrift „Cell“ über ähnliche Experimente.

Magdalena Zernicka-Goetz im Labor
Simon Zernicki-Glover
Magdalena Zernicka-Goetz im Labor

Zernicka-Goetz, Hanna und weitere Fachleute haben damit nun erstmals die Frühphase der natürlichen Entwicklung von Mäuseembryonen nachgeahmt. Die Kunstembryonen erreichten ein Stadium, das achteinhalb Tagen natürlicher Schwangerschaft entspricht – das ist fast die Hälfte der Schwangerschaftszeit bei Mäusen, die rund 19 Tage dauert. Bis dahin hatten sie Gehirn, Herz, Dottersack und einen Darm entwickelt. Erst danach stellten sie ihre Entwicklung ein, ein Zeitpunkt, der bei einem menschlichen Embryo dem Entwicklungsstand am Ende des ersten Schwangerschaftstrimesters entspricht. „Es ist unglaublich, dass wir so weit gekommen sind“, sagt Studienleiterin Magdalena Zernicka-Goetz. „Das war der Traum der Community seit Jahren und Resultat der Arbeit von einem Jahrzehnt.“

Bessere Untersuchungen ohne Tierversuche

Mit den künstlichen Embryonen ließe sich die Frühphase natürlicher Schwangerschaften besser untersuchen, betont die Entwicklungsbiologin. Immer wieder komme es dabei zu einer fehlerhaften Kommunikation zwischen verschiedenen Stammzelltypen und damit zu Komplikationen in der Schwangerschaft. „Viele Schwangerschaften gehen in dieser Zeit schief, noch bevor Frauen überhaupt wissen, dass sie schwanger sind“, sagt Zernicka-Goetz. Bei den künstlichen Embryonen lassen sich gezielt einzelne Gene ausschalten, womit Entwicklungsstörungen oder Störungen der Organbildung besser untersucht werden können. Ähnliches gelte für die Entwicklung des Gehirns und dabei entstehende Komplikationen.

Natürliche und künstliche Embryonen zeigen kaum Unterschiede
Amadei and Handford
Synthetischer und natürlicher Embryo zeigen vergleichbare Gehirn- und Herzbildung

Künstliche Organe für Transplantationen

Bleibt die Frage der ethischen Einordnung des wissenschaftlichen Fortschritts. Auf der einen Seite könnten die künstlichen Embryonen die Anzahl umstrittener Tierversuche deutlich reduzieren. Auf der anderen Seite ist das Ziel der Forschung eindeutig ein therapeutisches – sprich eines, das mit menschlichen Zellen arbeiten will. „Die Züchtung menschlicher Embryonen ist um ein Vielfaches komplizierter“, kommentiert der Humangenetiker Malte Spielmann. Dennoch sei durch die aktuellen Studien zu erwarten, „dass zumindest einzelne Organe synthetisch gezüchtet werden können".

Die langen Listen von Patientinnen und Patienten, die auf Spenderorgane warten, seien für ihre Arbeit ein gutes Argument, findet Studienleiterin Zernicka-Goetz. „Das Wissen, das daraus resultiert, könnte zu künstlichen Organen führen, die lebensrettend sind.“ Der israelisch-palästinensische Stammzellforscher Jakob Hanna hat vor Kurzem ein Startup-Unternehmen in diesem Sinne gegründet.

14-Tage-Regel der Embryonalforschung

Die Erfolgsquote der synthetischen Mausembryonen ist mit ein bis zwei Prozent entwicklungsfähiger Embryonen bisher noch sehr gering. Zudem steht der Entwicklung von synthetischen menschlichen Embryonen im Labor bisher die in vielen Ländern geltende 14-Tage-Regel entgegen. Laut dieser Regel dürfen durch künstliche Befruchtung gewonnene menschliche Embryonen maximal bis zu 14 Tage nach der Befruchtung oder bis zur Bildung des Primitivstreifens im Labor kultiviert werden.

Die International Society for Stem Cell Research (ISSCR) hatte im Mai 2021 allerdings empfohlen, diese 14-Tage-Regel für ausgewählte Fälle zu lockern. Die ISSCR schlug angesichts der experimentellen Fortschritte vor, dass Studien, bei denen menschliche Embryonen über die Zweiwochenmarke hinaus im Labor gezüchtet werden sollen, vorher von Fall zu Fall von interdisziplinären Kommissionen geprüft werden und mehrere Stufen einer externen Überprüfung durchlaufen sollten.

Rechtliche Lage unklar

In Österreich verbietet das Fortpflanzungsmedizingesetz Experimente an menschlichen Embryonen. Die rechtliche Einordnung von künstlichen Embryonen ist allerdings weltweit unklar. Sie dürfte künftig vermehrt davon abhängen, inwiefern sie menschlichen Lebewesen mit Entwicklungsfähigkeit ähneln und entsprechend als menschliche Embryonen eingestuft werden sollten.

Auf ein weiteres Phänomen macht der Embryologe Michele Boiani vom deutschen Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin aufmerksam. „Die ISSCR-Richtlinien erlauben zwar die Herstellung synthetischer menschlicher Embryonen, verbieten aber deren Übertragung auf die Gebärmutter, was immer als die wichtigste Barriere zur Verhinderung von höchst unethischen Experimenten galt.“

Die Mäusestudien zeigen nun aber, dass die Übertragung auf eine Gebärmutter gar nicht nötig ist – die Richtlinien seien deshalb ein „zahnloser Tiger“. Ihn sorge die Aussicht, „dass allein aus Stammzellen rekonstruierte synthetische Embryonen das reproduktive Klonen von Menschen ermöglichen könnten".