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Paolese – stock.adobe.com
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Gesundheitswesen

„Sechsklassenmedizin in Österreich“

Vier von fünf Befragten sind laut einer Umfrage der Meinung, dass jene, „die es sich leisten können“, in Arztpraxen und Spitälern bevorzugt werden. Das österreichische Gesundheitswesen habe „ein Problem mit ungleichen Zugängen zu Leistungen“, bestätigt eine Expertin von Transparency International. Sie nennt es „Sechsklassenmedizin“.

Fast 80 Prozent sind laut Austrian Health Report, der Ende September veröffentlicht wurde, der Meinung, dass Patientinnen und Patienten, „die es sich leisten können“, in Österreich schneller behandelt werden. Und nur 22 Prozent empfinden, dass das österreichische Gesundheitssystem fair ist und alle eine gleich gute Behandlung bekommen. Als „alarmierend“ bezeichnet Andrea Fried, Expertin von Transparency International Österreich, diese Ergebnisse. „Besonders wenn man bedenkt, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen in Österreich sehr niederschwellig und die medizinische Versorgung sehr gut ist – auch im internationalen Ranking.“

Für die Erhebung des Austrian Health Report 2022 wurden 801 repräsentativ ausgewählte Personen in Österreich und 460 Ärzt:innen und Apotheker:innen im August und September 2022 befragt. Die Umfrage des Instituts für empirische Sozialforschung (IFES) wurde von der Pharmafirma Sandoz in Auftrag gegeben.

Die Umfragedaten zeigen, „dass sich die Ansicht, dass es Unterschiede in der Behandlung gibt, in der Bevölkerung schon sehr verfestigt hat“, so Fried im Gespräch mit science.ORF.at. Und das würde wiederum viele Menschen dazu motivieren, „sich von vornherein zu überlegen: Wie komme ich am schnellsten zur benötigten Leistung?“

Nicht Zwei-, sondern Sechsklassenmedizin

Bei ungleichen Zugängen zu medizinischen Leistungen, handle es sich natürlich nicht immer „um Bestechung in dem Sinne, dass ein Kuvert mit Geld an der Steuer vorbei übergeben wird“, betont Fried. Auch das komme zwar immer noch vor, vor allem aber gebe es heute sehr viele legale Wege, zu einer bevorzugten oder beschleunigten Behandlung zu kommen. Fried spricht in diesem Zusammenhang von einer Sechsklassenmedizin in Österreich – denn der viel zitierte Begriff der „Zweiklassenmedizin“ greife zu kurz.

Die Sechsklassenmedizin reiche von Unterschieden in den Leistungsspektren der verschiedenen Krankenversicherungsträger über private Zusatzversicherungen und Privatzahlungen bis zu Menschen, die gar keinen Krankenversicherungsschutz haben. Auch das Nutzen von persönlichen Beziehungen zählt Fried zur Sechsklassenmedizin: „Vitamin B ist in Österreich auch im Gesundheitswesen ganz offensichtlich ein wichtiger Faktor.“ Laut Korruptionsbarometer 2021 von Transparency International nutzten in Österreich 36 Prozent der Befragten persönliche Beziehungen, um in einem öffentlichen Krankenhaus eine benötigte Leistung zu erhalten. Der EU-Durchschnitt liegt bei 29 Prozent.

TI sieht Systemveränderung

Bei Transparency International beobachte man eine Systemveränderung in Richtung Privatmedizin, sagt Fried. Ein Grund dafür – und ein strukturelles Problem – sei, dass es in Österreich „Mischsysteme zwischen privaten Anbietern und dem öffentlichen Sektor“ gebe. Veranschaulichen lasse sich das beispielsweise an der durchaus verbreiteten Möglichkeit, als Privatpatient in einer Ordination die Zusage zu bekommen, vom betreffenden Arzt, der auch in einem öffentlichen Krankenhaus arbeitet, operiert zu werden. „Da beginnt schon eine gewisse Grauzone.“ Die Patientenanwaltschaft fordere hier schon lange klare Regeln, aber „vielleicht ist das auch ein bisschen ein österreichisches Spezifikum, dass wir das alles nicht so genau nehmen“.

Weitere Daten aus Studien und Umfragen der vergangenen zwei Jahre untermauern diese Tendenzen. So erhielt etwa laut einer Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) aus dem Jahr 2020 fast jeder Zehnte der befragten Patientinnen und Patienten das Angebot, die Wartezeit auf eine geplante Operation „durch eine private Zuzahlung und/oder den Besuch einer Privatordination zu verkürzen“. Und in einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Frühjahr bejahten immerhin acht Prozent die Frage, ob sie „abgesehen von offiziellen Gebühren eine zusätzliche Zahlung leisten, einer Pflegekraft oder einem Arzt ein wertvolles Geschenk machen oder dem Krankenhaus Geld spenden mussten“. Im EU-Durchschnitt waren es vier Prozent.

„Hotspot für Korruption“

Doch nicht nur in Österreich ist das Gesundheitswesen besonders anfällig für Korruption. Im jüngsten Korruptionsbarometer von Transparency International wird das Gesundheitswesen der EU als „Hotspot für Korruption“ bezeichnet. Bestechung sei in Osteuropa am weitesten verbreitet, Österreich weise aber ähnlich wie Belgien im Vergleich zu den meisten westeuropäischen Ländern überdurchschnittliche Bestechungsquoten auf.

Im internationalen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen von Transparency International werde deutlich, dass „wir in Österreich, Phänomene haben, die in skandinavischen Ländern undenkbar wären“, sagt Fried. Und auch in Deutschland sei etwa der Begriff „Kuvertmedizin“, also die Übergabe von Geld in einem Kuvert gegen eine medizinische Leistung, nicht gebräuchlich.

Ob die Coronavirus-Pandemie Korruption im Gesundheitswesen noch gefördert hat, könne man erst sagen, wenn Daten dazu vorliegen, so Fried. Ohne starke Transparenz, Rechenschaftspflicht und Aufsichtsmechanismen könne aber eine Notsituation wie die Coronavirus-Pandemie zum „fruchtbaren Boden“ für Korruption werden, heißt es im Bericht zum Korruptionsbarometer.

„Das Opfer ist die Allgemeinheit“

Gerade im Gesundheitswesen verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was legal ist, und dem, was nicht mehr legal ist, zunehmend, sagt Fried. Werden Wartelistenregeln und die Regeln des Spitals umgangen, könne man aber auf alle Fälle von Korruption sprechen. „Wenn sich die Beteiligten einen persönlichen Vorteil auf Kosten der Solidargemeinschaft verschaffen, der im System nicht vorgesehen ist, dann ist das Missbrauch anvertrauter Macht.“ Und Fried betont: „Der Korruptionsbegriff umfasst nicht nur strafrechtlich relevante Tatsachen, sondern beinhaltet auch eine moralische Komponente.“

Korruption aufzudecken sei meist schwierig, „weil beide Seiten profitieren und es kein sichtbares Opfer gibt“. Das unsichtbare Opfer aber sei die Allgemeinheit, insbesondere jene Menschen, die auf der Warteliste nach hinten rücken und längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, weil andere einen bevorzugten Zugang erhalten haben. Denn: „Jede Bevorzugung hat die Benachteiligung von anderen zur Folge.“

Transparenz als entscheidende Maßnahme

Es brauche deutliche Maßnahmen von Politik und Krankenhausträgern, „durch die ein klares Zeichen gesetzt wird, dass diese Tendenzen eine unerwünschte Entwicklung darstellen“, sagt Fried. Zwei Wege sieht die Expertin, um der Tendenz zu ungleichen Zugängen zu medizinischer Versorgung entgegenzusteuern: Ausreichende Ressourcen in medizinischen Bereichen, in denen Engpässe drohen, und Transparenz. Durch Transparenz werden Regelungen, Prozesse und Handlungen für Außenstehende sichtbar gemacht. Dort, wo es entsprechende Maßnahmen gibt, lasse sich eine positive Entwicklung beobachten. So müssen etwa seit 2007 die Wartezeiten für bestimmte Operationen auf den Websites der öffentlichen Krankenanstalten veröffentlicht werden.

Die größte Gefahr durch ungleiche Zugänge zu medizinischen Leistungen sieht Fried darin, dass das Vertrauen der Menschen in das Gesundheitssystem untergraben wird. „Und das Traurige daran ist, dass das nicht notwendig wäre. In Österreich werden Patienten und Patientinnen gut versorgt, und ich denke, wir wollen alle ein Gesundheitssystem, in dem man nicht mit der Geldbörse in die Arztordination kommen muss, so wie es in Ländern mit großen Versorgungsmängeln der Fall ist.“