Walze von Dictaphon
Eva Hallama, Österreichische Mediathek
Eva Hallama, Österreichische Mediathek
Young Science

Die Urgroßeltern der Sprachnachrichten

Junge Menschen schreiben einander immer weniger – wenn sie etwas mitteilen möchten, nutzen sie dafür eher Sprachnachrichten. Wirklich neu ist das Phänomen aber nicht. Zwei junge Forscherinnen untersuchen und sammeln in Wien über 100 Jahre alte Audiobriefe – quasi die „Urgroßeltern" von WhatsApp, Signal und Co.

Mit nur wenigen Klicks auf dem Handy können Tonaufnahmen heutzutage an Orte auf der ganzen Welt verschickt werden. Vor der Erfindung von Mobiltelefonen war das natürlich nicht so einfach, trotzdem war das Verschicken von Aufnahmen beliebt und weit verbreitet.

Sogenannte Audiobriefe gab es seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Begonnen hat ihre Verbreitung mit einer Erfindung von Thomas Alva Edison. Im Jahr 1878 hat er das Patent für den Phonographen erhalten, der Aufnahmen mithilfe von Wachswalzen abspielen konnte. Edison selbst versandte dann sein erstes „Postphonogramm“ im Jahr 1888. Auf zwei Wachswalzen hat er damals einen Brief an seine Vertreter und eine Werbebotschaft für eine öffentliche Vorführung seiner Erfindung gesprochen.

Der Weg zur Massentauglichkeit

Sehr weit verbreitet waren Audiobriefe auf den ersten Wachswalzen aber noch nicht. Einerseits waren die Tonträger selbst relativ empfindlich, da die Aufnahmen in das weiche Wachs der Walzen eingeritzt wurden. Andererseits war aber auch der Phonograph für viele Familien damals noch viel zu kostspielig.

Young Science in ORF Sound

Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen im Mittelpunkt der Serie „Young Science“. Die Beiträge sind auch auf ORF Sound zu finden.

Im Laufe der Zeit und mit dem technischen Fortschritt wurden aber auch die Tonträger für die Audiobriefe immer besser. „Begonnen haben diese Briefe mit den Wachswalzen, dann gab es verschiedenste Formen von Platten, danach Tondraht und Tonbänder und dann die Kompaktkassetten“, erklärt Eva Hallama von der Österreichischen Mediathek gegenüber science.ORF.at. Laut der Historikerin wurden Audiobriefe erst mit dem Aufkommen der Kompaktkassetten und der Möglichkeit, die Nachrichten zuhause im Wohnzimmer einzusprechen, zu einem richtigen Massenmedium.

Eva Hallama bei der Arbeit mit einer Revox-Tonbandmaschine
Gaderer, Österreichische Mediathek
Eva Hallama bei der Arbeit mit einer Revox-Tonbandmaschine

Auf der Suche nach Tonaufnahmen

Zusammen mit der Restauratorin Katrin Abromeit vom Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) leitet Hallama das interdisziplinäre Projekt „Sonic Memories – Audio Letters in Times of Migration and Mobility“ – kurz „SONIME“. Die beiden jungen Forscherinnen haben es sich zum Ziel gemacht, möglichst viele Audiobriefe zu sammeln, sie zu untersuchen und dann für kommende Generationen zu archivieren – vom Beginn der Tonaufzeichnung an bis zu dem Zeitpunkt, als sie von den digitalen Medien und dem Internet ersetzt wurden.

Das Projekt, das Ende 2021 begonnen hat und noch bis 2025 dauert, hat vor allem zwei Seiten: „Einerseits durchsuchen wir unsere Archive nach Audiobriefen, die zwar schon gesammelt aber beispielsweise nicht inventarisiert wurden. Andererseits sind wir aber auch auf der Suche nach bisher noch unbekannten Audiobriefen, um eine neue, eigene Sammlung zu begründen“, erklärt Abromeit.

Katrin Abromeit im Archivmagazin der ÖAW
Carl, Programmarchiv der ÖAW
Katrin Abromeit im Archivmagazin der ÖAW

Geburtstagsständchen per Post

Einige Audiobriefe konnten die beiden Forscherinnen bereits untersuchen. Die Inhalte unterscheiden sich dabei stark – abhängig davon, in welcher Zeit sie aufgenommen wurden und wer die Sender und Empfänger waren. Ein paar Themen, die darin besonders oft angesprochen wurden, gibt es laut Hallama aber trotzdem: „Ganz typisch sind zum Beispiel Grüße – egal ob zu Ostern, zu Weihnachten, oder zum Geburtstag. Sehr oft wurde dann auch ein Gesang aufgenommen.“

Ein Gruß zum 65. Geburtstag des Vaters, aufgenommen auf einer Wachswalze am 9. Jänner 1900. Es handelt sich um eine der ältesten noch erhaltenen Privataufnahmen in der Österreichischen Mediathek.

Oft thematisiert wurde außerdem die Gerätschaft und die damals für viele doch sehr ungewöhnliche und entfremdete Aufnahmesituation. Vor allem in den Anfängen der Audiobriefe war es nicht einfach, tatsächlich gut verständliche Nachrichten aufzunehmen. Hallama: „Man musste damals zu Aufnahmeboxen oder zum Beispiel in Lokale gehen. Dort musste man dann in einen Trichter sprechen, man durfte sich nicht bewegen oder mit dem Kopf wackeln und man musste auch möglichst laut sprechen.“ Das hat laut der Historikerin zu einer anderen Art von Nachrichten geführt als später, als mit dem Tonband oder der Kassette auch Aufnahmen zuhause und in intimer Atmosphäre möglich waren.

In allen Schichten verbreitet

Spätestens mit dem Aufkommen der relativ widerstandsfähigen und kleinen Kompaktkassette konnten es sich fast alle Bevölkerungsgruppen leisten, Tonaufnahmen per Post zu verschicken. Vor allem Menschen in prekären Migrationskontexten nutzten die Briefe damals gerne, um zum Beispiel Familienmitglieder im Ausland zu kontaktieren.

Walze von Dictaphon
Eva Hallama, Österreichische Mediathek
Hülle einer historischen Wachswalze

Die Audiobriefe in diesem Kontext interessieren Hallama und Abromeit besonders, denn sie seien eine wichtige Quelle für den kulturellen und historischen Kontext, in dem die Menschen damals gelebt haben. Dass dabei oft auf bereits bespielte Musikkassetten gesprochen wurde, sei etwa ein Verweis auf die damals eher begrenzten Ressourcen.

Gehütet wie ein Schatz

Was bei den Tonaufnahmen – vor allem jenen in Migrationskontexten – ebenfalls deutlich wird: Stimme vermittelt mehr als nur das gesprochene Wort. „Diese Intimität, wenn jemand zu einem geliebten Menschen spricht, der weit weg ist, ist mit der Stimme sofort da“, so Hallama. Herauszufinden, inwiefern Hörbriefe also auch Erinnerungsobjekte waren, wie oft sie als persönlicher Schatz gehütet wurden und welche kulturelle Bedeutung ihnen zukommt, ist ebenfalls ein Anliegen der Forscherinnen.

Dazu gehört auch, die Beschaffenheit der Tonträger zu untersuchen. So können die Forscherinnen zum Beispiel Aussagen darüber treffen, wie gut die Nachrichten gelagert wurden oder wie oft sie abgespielt worden sind. Vor allem die Wachswalzen waren so weiche Tonträger, dass die Qualität der Aufnahme bei jedem Anhören schlechter wurde. „Diese Briefe wurden oft mit ganz viel Bedeutung besetzt und waren sehr wichtig für die Personen. Deswegen haben sie sich vielleicht auch gar nicht so oft getraut, dieses Ding abzuspielen, weil es damit ja auch immer ein bisschen zerstört wird“, erklärt Hallama.

Kratzer, Rillen und Verpackungen

Die Beschaffenheit der Audiobriefe gebe aber noch viele weitere Einblicke in deren Vergangenheit und den Weg, den sie bereits zurückgelegt haben. Jeder Kratzer, jede Rille und sogar die Dicke der Wachsschicht auf den Walzen sagen laut Abromeit etwas über die Briefe aus.

Wachswalzen konnten zum Beispiel abgeschabt und neu bespielt werden, um auf eine Nachricht zu antworten. Wie dick die Wachsschicht ist, sagt also auch etwas darüber aus, wie oft die Walze verwendet wurde. Andere Merkmale wie Kratzer oder Verformungen geben außerdem Einblicke in die Aufbewahrung oder die Entstehung der Aufnahmen, auch auf Tonträgern wie etwa Schallplatten. „Unter Deutung aller äußeren Zeichen könnte man zum Beispiel ein typisches Rillenbild einer Schallplatte, die in einer Selbstaufnahmebox hergestellt wurde, von dem Rillenbild einer Platte aus einer Studioaufnahme unterscheiden", so Abromeit.

Tonbandbrief Kompaktkassette
Eva Hallama, Österreichische Mediathek
Kompaktkassette als Tonbandbrief

Auch die Verpackungen der Audiobriefe sind für die Forscherinnen – sofern sie noch als Original erhalten sind – von großem Interesse. Ähnlich wie bei der Dicke der Wachsschicht von Walzen sage die Verpackung viel über den Weg aus, den die Tonträger zurückgelegt haben. „Es ist ganz wichtig, was da draufsteht. Auf den Verpackungen von Kompaktkassetten sind zum Beispiel sehr oft Sachen durchgestrichen, oder es steht etwas Neues oder ein kurzer Kommentar darauf. Das gibt uns natürlich einige Informationen darüber, wie die Tonträger einmal verwendet worden sind“, erklärt Hallama.

Aufruf zur Beteiligung

Bis zum Ende des Projekts im Jahr 2025 möchten die Forscherinnen so viele Audiobriefe wie möglich sammeln und archivieren. Alle Erkenntnisse aus dem Projekt werden dann auch für die Forschung frei zugänglich gemacht und sollen als Datenbank und Grundlage für zukünftige Untersuchungen dienen.

Tonträger jetzt einreichen

Alle weiteren Informationen zur Kontaktaufnahme mit den Forscherinnen und dem Einreichen von Audiobriefen gibt es auf der Website der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Noch suchen die beiden Forscherinnen aber nach weiteren Audiobriefen auf analogen Tonträgern, also auf Wachszylindern, Platten, Tonbändern oder Diktier- und Kompaktkassetten. Hallama und Abromeit möchten die Aufnahmen archivieren und untersuchen, wissen aber auch, dass nicht jeder derart private Nachrichten einfach so herausgeben möchte.

Dass die Aufnahmen ohne das Einverständnis der Besitzerinnen oder Besitzer veröffentlicht oder anderen Forschungsprojekten zur Verfügung gestellt werden, komme auf keinen Fall vor. Hallama: „Falls uns jemand einen analogen Tonträger zur Verfügung stellt, besprechen wir die rechtlichen Möglichkeiten natürlich jedes Mal ausführlich. Wir haben sehr hohe Ansprüche, die privaten Nachrichten nur im Sinne der Übergeberinnen und Übergeber zu nutzen.“ In jedem Fall können die Forscherinnen die alten Tonträger restaurieren, abspielbar machen und für die Eigentümer digitalisieren.