Strohballen, Feld, Getreideernte, Ernte, Landwirtschaft
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Lebensmittelkrise

Umverteilung könnte eine Milliarde ernähren

Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt sind von Hungersnöten bedroht, dennoch werden Unmengen an Getreide und anderen Nahrungsmitteln als Futter für Nutztiere verwendet. Eine Studie zeigt nun, dass durch Umverteilungen eine Milliarde Menschen zusätzlich ernährt werden könnten – allerdings nicht ohne Abstriche.

Ein Drittel der weltweiten Getreideproduktion, ein Viertel des gefangenen Fisches und große Mengen Pflanzenöle und Hülsenfrüchte, werden derzeit in der Nutztierhaltung verbraucht, heißt es in der Studie der finnischen Universität Aalto. Fütterte man vermehrt landwirtschaftliche Nebenprodukte wie etwa Zuckerrübenschnitzel und Getreidekleie, blieben erheblich mehr Ressourcen für die Produktion von Nahrungsmitteln für Menschen.

Fischmehl statt Hülsenfrüchte

Für die Studie, die im Fachjournal „Nature Foods“ veröffentlicht wurde, erfasste das Forschungsteam um Matti Kummu, Professor für globale Wasser- und Ernährungsfragen, die weltweiten Lebensmittel- und Futtermittelströme – und stellte dabei erhebliches „ungenutztes Potenzial“ fest.

Daraufhin untersuchten die Forscherinnen und Forscher Möglichkeiten, die Ströme so zu verändern, dass ein besseres Ergebnis erzielt wird: Statt Getreide soll der Speiseplan für Nutztiere demnach neben Zuckerrübenschnitzel und Getreidekleie auch Treber und Ernterückstände wie Schalen, Samen und Wurzeln enthalten. Pflanzenöle sollen durch Öle aus Fisch- und Geflügelnebenprodukten ersetzt werden, Hülsenfrüchte durch Ölsamen, und Fischmehl aus vollständigem Fisch durch Fischmehl aus Fischnebenprodukten.

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Mitte September beginnt die Zuckerrübenernte, Nebenprodukte sind etwa das Rübenblatt, Rübenschnitzel und Melasse

„Nahrung für eine Milliarde Menschen“

Laut der Studie könnte die weltweite Nahrungsmittelversorgung durch diese Umstellungen erheblich gesteigert werden: Zehn bis 26 Prozent der gesamten Getreideproduktion und 17 Mio. Tonnen Fisch sollen laut den Berechnungen von der Tierfütterung auf die Nutzung für Menschen umgelenkt werden. Je nach genauem Szenario betrage der Zugewinn sechs bis 13 Prozent in Bezug auf den Kaloriengehalt und neun bis 15 Prozent in Bezug auf den Proteingehalt. „Das klingt vielleicht nicht nach viel, ist aber Nahrung für etwa eine Milliarde Menschen“, sagt Vilma Sandstrom, die Erstautorin der Studie.

Abstriche in der Qualität

In der Studie ist vom „Upcycling der Nebenprodukte“ die Rede, und auch wenn damit eine Aufwertung angedeutet wird, räumt das Forschungsteam in weiterer Folge ein, dass die Qualität des Tierfutters unter den Umstellungen leiden könnte. Durch die Verfütterung von Ernterückständen sei beispielsweise ein Rückgang der Produktivität in der Viehzucht möglich – ein Aspekt, der in die Berechnungen der Studie bereits eingeflossen ist.

Und auch was die neu gewonnenen Nahrungsmittel für den Menschen betrifft, müssen Abstriche in der Qualität gemacht werden – oder wie es in der Studie heißt: „Es gibt Herausforderungen“. So werden etwa in der Futtermittelindustrie weniger hochwertige Maissorten als in der Lebensmittelproduktion verwendet. Und Fisch, der bisher in Form von Fischmehl als Futtermittel für Tiere verwendet wurden, sei oft klein und knochig und „bei Verbraucherinnen und Verbrauchern nur wenig beliebt“.

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Ein Drittel der weltweiten Getreideproduktion wird derzeit als Tierfutter verwendet

„Nutzen überwiegt“

Für das Forschungsteam überwiegt dennoch der Nutzen: Das weltweite Nahrungsmittelangebot werde gesteigert, ohne die Futtermengen für die Nutztierhaltung zu verringern. Es werden weniger Düngemittel benötigt und auch die Treibhausgasemissionen sollen in der Folge zurückgehen. Für die Umsetzung seien freilich Anpassungen in den Lieferketten notwendig. Zudem müssten einige der Nebenprodukte vor ihrer Verwendung als Tierfutter verarbeitet werden.

Matti Kummu sieht in all dem aber keine Hindernisse: „Was wir vorschlagen, wird teilweise bereits praktiziert, es muss also nicht von Grund auf neu entwickelt werden. Wir müssen lediglich das derzeitige System anpassen und den Umfang dieser Praktiken erweitern.“ Die Umstellung bezeichnet das Forschungsteam als wichtigen Schritt für den „dringenden Übergang zu kreislauforientierten Lebensmittelsystemen“.

„Lebensmittelkrise ist Verteilungskrise“

Die Lebensmittelkrise sei im Grunde eine Verteilungskrise, sagte Martin Frick, Leiter des globalen Büros des Welternährungsprogramms der UNO in Berlin (World Food Programme) kürzlich im Ö1-Interview: „Es wäre wirklich genug für alle da. Uns gehen nicht die Lebensmittel aus.“ In Deutschland etwa würden rund 60 Prozent der Getreideernte für Tierfutter genutzt und weitere rund 15 Prozent für Biosprit. „Nehme ich das zusammen, bin ich bei 75 Prozent, die gar nicht für menschlichen Verzehr genutzt werden.“ Hinzukommt die Lebensmittelverschwendung in reichen Ländern. Laut Schätzungen landen in Österreich jährlich eine Million Tonnen Lebensmittel im Müll.

Laut Welternährungsprogramm haben u. a. der Krieg Russlands in der Ukraine, die Klimakrise und die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie die Zahl jener, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, auf 345 Millionen Menschen ansteigen lassen. Zudem ist die Zahl der weltweit an Hunger leidenden Menschen laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UNO) im vergangenen Jahr weiter gestiegen: 2021 waren etwa 768 Millionen Menschen betroffen, das sind rund 46 Millionen mehr als 2020.