Stubacher Sonnblickkees
Melitta Maislinger
Melitta Maislinger

Alpengletscher schmelzen in Rekordtempo

Die Alpengletscher sind 2022 in einem Rekordtempo geschmolzen. Erste Messungen nach dem Sommer aus Österreich und der Schweiz zeigen, dass die Schmelze seit Aufzeichnungsbeginn noch nie so schnell war. Das berichten Gletscherforscherin Andrea Fischer und Gletscherforscher Hans Wiesenegger in einem Gastbeitrag.

Der viertwärmste Sommer der Messgeschichte führte zu einer Rekordschmelze an Österreichs Gletschern. Die Sommer 2003, 2015 und 2019 waren zwar noch etwas wärmer, auf den Gletschern aber führte die geringe Schneemenge aus dem Winter zu einer extrem langen Schmelzperiode.

Über Autorin und Autor

Andrea Fischer ist stv. Leiterin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck, Hans Wiesenegger Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg.

Sommerliche Schneefälle blieben in allen Höhenlagen weitgehend aus, die die Schmelze unterbrechen hätten können. Das Eis war bis in die Gipfelregionen mehrere Wochen lang der Sonne ungeschützt ausgesetzt. Ist der Winterschnee abgeschmolzen, schmilzt pro Tag etwa zehn Zentimeter Eis.

Für das Stubacher Sonnblickkees in den Hohen Tauern schätzt der Gletscherforscher Heinz Slupetzky den Dickenverlust auf bis zu vier Meter Eis. Das ist deutlich mehr als die 2,8 Meter des Jahres 2003 – dem bisher wärmsten Jahr. Wie an vielen österreichischen Gletschern sind hier Felsinseln ausgeapert, die in den nächsten Jahren zum Zerfall des Gletschers in mehrere Teile führen wird.

Ausgeaperte Felsinseln am Stubacher Sonnblickkees
Hans Wiesenegger
Am Stubacher Sonnblickkees sind mehrere Felsinseln ausgeapert (rote Pfeile), die den bevorstehenden Zerfall des Gletschers in mehrere Teile zeigen.

Vom Venedigerkees in den Hohen Tauern berichtet Bernd Seiser (IGF/ÖAW), dass die bisher größte gemessene Schmelze schon im August übertroffen wurde. Auch der Hallstätter Gletscher am Dachstein ist komplett ausgeapert. Laut Klaus Reingruber (Bluesky) und Kay Helfricht (IGF/ÖAW) lag der Eisverlust ebenfalls schon Ende August im Bereich der bisher gemessenen Maximalwerte.

Starke Rückkopplungseffekte

Am Jamtalferner in der Silvretta ist etwa ein Drittel mehr Eis geschmolzen als in den bisher extremsten Sommern. Besonders drastisch ist die Abweichung in den Gipfelregionen, in denen statt etwa ein Meter heuer vier Meter Eis verloren gingen. Die starke Schmelze der Gipfelregionen wirkt sich durch die geringe Eisdicke dort sofort als Flächenänderung aus.

Jamtalferner Ende Juli bzw. Mitte September

Besonders in den obersten Höhenstufen führte die starke Schmelze am Jamtalferner zu deutlich sichtbaren Flächenverlusten (rechts im Bild oben).

Damit wird das sogenannte Akkumulationsgebiet kleiner, in dem sich normalerweise neues Eis bilden kann. Der Schnee bleibt auf dem wärmeren Untergrund nicht mehr so schnell liegen wie auf dem kalten Eis, und der Massenumsatz kippt dadurch noch mehr in Richtung Verlust. Solche Rückkopplungseffekte, wie auch die Schmelze an den Hohlräumen im Untergrund und die Verdunkelung der Oberflächen führen zu einer starken Beschleunigung des Gletscherrückgangs.

Extremwerte auch in der Schweiz

Auch in der Schweiz waren die Verluste immens, und lagen ganz klar außerhalb der bisher gemessenen Extremwerte In den Schweizer Alpen wurde das Aufgehen großer Gletscherspalten beobachtet (siehe Bild oben).

Dieses Phänomen konnte man auch an den österreichischen Gletschern im Extremsommer 2003 in den Firngebieten beobachten. Die Firnkörper, in denen diese Art von Phänomen vorkommt, sind hier aber seit 2003 weitgehend abgeschmolzen.

Auch Gipfelregionen schmolzen

Auch an den Gipfeln, an denen bisher – wie hier an der Weißseespitze im Tiroler Kaunertal (3.500 m) – auch in heißen Sommern Jahren nur wenige Tagen Schmelze auftrat, war 2022 über Wochen Schmelze zu verzeichnen.

Weißseespitze im Tiroler Kaunertal 25.7. bzw. 7.9.2022
Andrea Fischer IGF/ÖAW
Weißseespitze am 25.7. bzw. 7.9.2022

Die extreme Schmelze führte nicht wie befürchtet zu einem beobachtbaren Anstieg von Eisstürzen, aber zu einer Zunahme der Hohlräume an der Unterseite des Eises.

Blockgletscher beschleunigen

Auch Blockgletscher, das sind Massen aus Schutt und Eis, die talwärts fließen, reagieren auf die geänderten Bedingungen. Der Blockgletscher mit der längsten Geschwindigkeitsmessreihe Österreichs im Äußeren Hochebenkar/Ötztaler Alpen erreichte 2022 wie schon im Vorjahr Fließgeschwindigkeiten von über zehn Meter pro Jahr. Damit überholen die Blockgletscher, die normalerweise um einen Faktor 10 langsamer fließen, die immer träger werdenden Gletscher. Im schlimmsten Fall kann es dadurch zu einer Destabilisierung der bisher gefrorenen Schuttkörper kommen. Dadurch könnte es zu erhöhtem Steinschlag kommen.

Blockgletscher im Äußeren Hochebenkar
Andrea Fischer IGF/ÖAW
Der Blockgletscher im Äußeren Hochebenkar in den Ötztaler Alpen hat merklich beschleunigt, die Bildung von Spalten ist ein sichtbares Zeichen der gestiegenen Aktivität.

Ob die große Schmelze für die Gletscher Österreichs durch die Schneefälle vom Wochenende zu Ende sein wird, zeigt sich erst. Mit dem prognostizierten herbstlichen Schönwetter kann der Schnee im schlimmsten Fall auch wieder abtauen. Im Herbst 2021 dauerte die Gletscherschmelze bis etwa Mitte Oktober an.