Szenenausschnitt aus Universum History: Kinder des Chaos. Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit
Universum History
Universum History
Besatzungszeit

Frankreichs „Kinder des Staates“

„Kinder des Staates“ hat Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg Kinder in den besetzten Gebieten genannt, deren Väter Soldaten der französischen Armee waren. Im Gegensatz zu den anderen Besatzungsmächten beanspruchte Frankreich diese Kinder für sich – aus bevölkerungspolitischen Gründen.

Bis an das Wochenbett kamen die „Rechercheoffiziere“, wenn den französischen Militärbehörden in Deutschland zu Ohren gekommen war, dass ein Kind eines Soldaten der französischen Armee auf die Welt gekommen war. Ziel war es, die Mütter dazu zu bringen, das Kind dem französischen Staat zu überlassen, erklärt der Historiker Rainer Gries von der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.

„Teilweise gingen sie mit Drohungen vor, häufiger waren es aber falsche Versprechungen, indem man behauptete, das Kind würde dem Vater übergeben werden. Man sagte den Müttern, sie würden den Kindern etwas Gutes tun, weil man in Frankreich sehr gut für sie sorgen würde.“ Viele Mütter hatten Angst, ihr Kind nicht versorgen zu können, sagt Gries: „Nach dem Krieg herrschte große Not, die Städte waren zerbombt, das Essen war rationiert, es war sehr schwierig, an Brennstoffe heranzukommen.“

Universum History: „Kinder des Chaos – Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit“

20.000 potenzielle Franzosen

Manche Kinder wurden auch ohne Drohungen oder falsche Versprechungen dem französischen Staat übergeben, denn Druck spürten die Mütter auch von anderer Seite: Sie stießen in der österreichischen und deutschen Bevölkerung auf große Ablehnung. Die Befreiung wurde als Niederlage empfunden und den Frauen wurde vorgeworfen, sich mit dem Feind eingelassen zu haben. Frauen, die Beziehungen mit französischen Soldaten eingingen, wurden auch auf öffentlicher Straße beschimpft oder in Schmähgedichten namentlich genannt, worauf der Historiker Klaus Eisterer von der Universität Innsbruck hinweist.

Sendungshinweise

Dass Frankreich als einzige Besatzungsmacht Interesse an den Soldatenkindern zeigte, hatte bevölkerungspolitische Gründe: Das Land versuchte den Verlusten der beiden Weltkriege etwas entgegenzusetzen. Frankreich verschaffte sich einen Überblick über die Kinder, deren Väter in der französischen Armee dienten, und zählte in Deutschland rund 20.000. Für Österreich ist die Zahl nicht bekannt.

Endstation Kinderheim

In ein paar Tausend Fällen übergab die Mutter das Kind den Militärbehörden, sagt Rainer Gries: „Nach Frankreich kamen nur 1.500, denn die Kinder wurden einem Auswahlverfahren unterworfen.“ Das folgte einem eugenischen Muster – Erbkrankheiten, Syphilis oder Hörbeeinträchtigungen waren beispielsweise Ausschlusskriterien. „Alle Kinder, die Krankheiten hatten, wurden ausgesondert, die waren jetzt plötzlich keine Franzosen mehr. Und dann kam die schärfste Selektion, indem man sie gewogen hat.“ Nur Babys, die schwer genug waren, kamen für eine Adoption in Frankreich in Frage. Das Kindeswohl war für die Entscheidung nicht relevant.

Kinderheim in Nordrach im Schwarzwald; Universum History: Kinder des Chaos. Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit
Historischer Verein Nordrach
In diesem französischen Heim in Nordrach im Schwarzwald wurden die Kinder ausgewählt

Kinder, die nicht ausgewählt wurden, wurden deutschen Kinderheimen übergeben, so der Historiker: „Die Heime haben versucht, die Mütter wieder ausfindig zu machen. Das war oft schwierig, weil sie nur spärliche Papiere bekommen haben.“ Nach einem halben oder dreiviertel Jahr waren die Mütter oft nicht mehr bereit, die Kinder zurückzunehmen: „Sie hatten emotional mit den Kindern abgeschlossen oder neue Partner, die das Kind nicht akzeptierten. Manche haben es zurückgenommen, aber das Schicksal der meisten Kinder war es, in einem deutschen Heim aufzuwachsen.“

Adoption: Weiße Mädchen bevorzugt

Jene rund 1.500 Kinder aber, die ausgewählt wurden, kamen nach Frankreich und wurden zur Adoption freigegeben. Dort kamen die nächsten Hürden: Buben waren schwer zu vermitteln, denn drei Viertel der adoptivwilligen Paare wollten Mädchen, sagt Rainer Gries: „Mädchen machen weniger Ärger, die sind leichter zu handhaben – das war die Vorstellung.“

Auch Rassismus spielte eine große Rolle: Kinder von nordafrikanischen oder schwarzen Soldaten waren unerwünscht, so der Historiker: „Aber die gab es natürlich, denn die französische Armee bestand auch aus Kolonialtruppen.“ Vorarlberg beispielsweise wurde Großteils von marokkanischen Truppen befreit. In Frankreich zur Adoption freigegebene Kinder, die nicht weiß waren, wurden oft nach Nordafrika weitergeschickt.

Österreich: Mit Wissen der Behörden

In Österreich lief die Sache ein wenig anders als in Deutschland, sagt Gries: „Deutschland war ein besetzter Feindstaat für die Franzosen. Österreich galt aufgrund der Moskauer Deklaration sowohl als besetzt als auch als befreit, deshalb ging man in Österreich vorsichtiger vor. Man bemühte sich, die österreichischen Behörden in diesen Prozess einzuschalten und von ihnen eine Zustimmung für die Adoptionen zu erhalten.“ In Deutschland wurden die Behörden nicht miteinbezogen. Dort fiel diesen erst nach ein paar Jahren auf, dass die Kinder fehlten, was zu einer Debatte über das völkerrechtswidrige Vorgehen Frankreichs führte, die in Österreich ausgeblieben ist.

Szenenausschnitt aus Universum History: Kinder des Chaos. Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit
Universum History
Als Hans-Peter Springmann wurde Sébastien Driesbach im deutschen Waldulm geboren und in Frankreich adoptiert

Wie viele Fälle es in Österreich gab, ist nicht erforscht. Fest steht, dass es in der französischen Besatzungszone in Riedenburg in Vorarlberg und in Natters in Tirol Säuglingsheime der französischen Militärbehörden gab. Und das auch aus Österreich Kinder nach Frankreich gebracht und an adoptivwillige Paare vermittelt wurden. In Riedenburg gab es für Frauen, die ein Kind von einem französischen Soldaten erwarteten, sogar die Möglichkeit zu entbinden.

Szenenausschnitt aus Universum History: Kinder des Chaos. Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit
Universum History
Sébastien Driesbach (Szenenausschnitt aus Universum History: „Kinder des Chaos. Die Ausgestoßenen der Nachkriegszeit“)

Der damalige französische Militärgouverneur für Vorarlberg, Henri Jung, betonte zwar im Nachhinein in einem informellen Bericht aus dem Jahr 1971, dass den Müttern dringend angeraten wurde, die Kinder zu behalten. Rainer Gries hält dies für eine nachträgliche Umdeutung – denn die Devise der französischen Politik sei klar gewesen und habe auch für die besetzten Gebiete in Österreich gegolten. Schon dass es die Entbindungsmöglichkeit und die Säuglingsheime gab, verweist auf das Interesse der französischen Militärverwaltung an den Kindern. Vergleichbare Einrichtungen gab es in der britischen, US-amerikanischen oder sowjetischen Besatzungszone nicht.