Wladimir Putin umgeben von Generälen und dem Verteidigungsminister Schoigu
Mikhail Klimentyev / Tass / picturedesk.com
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Die Tücken des historischen Vergleichs

Der historische Vergleich ist ein zentraler Bestandteil der Geschichtsschreibung. Doch der Grat zwischen wissenschaftlichem Argument und politischem Aktivismus ist schmal. Das zeigt etwa die Diskussion der Frage, wie stark Wladimir Putins Russland Adolf Hitlers Deutschland ähnelt. Anlässlich einer Konferenz in Wien skizziert der Historiker Martin Sabrow die Tücken des historischen Vergleichs in einem Gastbeitrag.

„NS-Vergleiche gehen nie gut aus, bleiben aber offenbar unwiderstehlich. Die deutsche Geschichte ist zu einem Steinbruch geworden, aus dem sich jeder bedient, der seine Botschaft dramaturgisch überhöhen will“, kommentierte der „Tagesspiegel“ Ende August, nachdem der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas den Holocaust gegen israelische Gewalttaten aufgerechnet hatte.

Porträtfoto des Historikers Martin Sabrow
Andy Küchenmeister

Über den Autor

Martin Sabrow ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes „Wert der Vergangenheit“ und Autor zahlreicher Fachartikel und Monografien unter anderem zur Weimarer Republik, zur DDR-Geschichte und zur Geschichte der Geschichtskultur.

Konferenz

„Der historische Vergleich. Erkenntnisgewinn und Kampfzone“: 6.–7. Oktober, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Campus Akademie, Wien, Bäckerstraße 13, 1010 Wien.

Eindrucksvoll manifestierte sich die Richtigkeit dieser Diagnose zuletzt in der öffentlichen Auseinandersetzung über den russischen Aggressor im Ukraine-Krieg, und sie zeugt zugleich von der ambivalenten Rolle der professionellen Zeitgeschichte in den vom NS-Vergleich ausgelösten Kontroversen. Nachdem im Juni 2022 der polnische Präsident Andrzej Duda eine Parallele zwischen Hitler und Putin gezogen hatte, um seine Kritik an der deutschen und französischen Zögerlichkeit hinsichtlich der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu untermauern, wurde diese Äußerung in der öffentlichen Rezeption alsbald zu einem klassischen NS-Vergleich zugespitzt, der Putin zu einem förmlichen Wiedergänger Hitlers erhob. Es nutzte wenig, dass besonnene Pressestimmen Dudas Einlassung mit Blick auf den Kontext als ein rein politisch begründetes Manöver deuteten, das nicht zum Nennwert zu nehmen sei, sondern lediglich der rhetorischen Untermauerung der Forderung nach schnellerer Waffenhilfe dienen sollte.

Snyder: Russland ist faschistischer Staat

Dudas rhetorischer Vergleich wurde vielmehr alsbald zu einer weltweit rezipierten These, deren besondere Resonanz darauf beruhte, dass auch Fachhistoriker zu ihr Stellung bezogen. Mit der Autorität seiner professionellen Zuständigkeit als Osteuropahistoriker hatte bereits im Mai 2022 Timothy Snyder mit einem aufsehenerregenden Gastbeitrag in der „New York Times“ argumentiert, dass der Faschismus nur scheinbar 1945 endgültig besiegt worden sei und mit Putins Krieg gegen die Ukraine zu alter Stärke zurückgefunden habe. Im Zusammenhang mit Dudas Einlassung präzisierte er nun unter Bezug auf Carl Schmitts Begriff des Politischen und Carl Joachim Friedrichs Totalitarismusdefinition, was er zuvor eher flüchtig skizziert hatte, dass nämlich Putins Russland ein faschistischer Staat sei.

Snyder beließ es nicht bei der zeithistorischen Einordnung, sondern zog aus seinem Befund selbst Schlussfolgerungen, die die historische Analyse in einen politischen Appell umwandelten und wiederum von der Publizistik unmittelbar aufgegriffen wurden: „Der vielfach prämierte amerikanische Historiker Timothy Snyder ist überzeugt, dass Putin dieselben Herrschaftstechniken nutzt wie Hitler. Er müsse unbedingt besiegt werden, um die Demokratien zu retten und den rechtsextremen ‚Mythos‘ zu zerstören“, hieß es etwa im Bayerischen Rundfunk.

Dieser Rollenwandel wurde im Fach bereits kritisch beleuchtet. Der Zeithistoriker Ulrich Herbert etwa fand in einem Zeitungsinterview: „Der anerkannte Historiker Snyder hat sich mehr und mehr in einen Aktivisten verwandelt, der sich massiv für die nationalen Interessen vor allem von Polen und der Ukraine einsetzt und dort wie ein Heilsbringer gesehen wird. Diese Rolle hat Vorteile, aber intellektuell eben auch Schattenseiten.“

Fotomontage, die Hitler und Putin zusammen zeigt – im Hintergrund eine ukrainische Fahne
AFP – OZAN KOSE
Auf einer Demonstration in Istanbul Ende Februar

Ähnlichkeiten auch mit Kommunismus

Mit seinem Appell fand Snyder hingegen Unterstützung bei seiner Kollegin Ann Applebaum, die zwar Vorsicht im Umgang mit dem Begriff „faschistisch“ einforderte, „weil dann jeder gleich an die Ermordung von Juden und den Holocaust denkt“, aber doch zu derselben Schlussfolgerung kam wie Snyder: „Aber in diesem Fall würde ich sagen: Ja, man kann das Wort faschistisch benutzen. Die Art und Weise, in der Russen jetzt über die Ukrainer sprechen, ist genozidal.“ Wie sich in dieser Denkfigur zeigt, stützte Applebaum sich im Unterschied zu Snyder auf eine doppelgleisige Rhetorik, die die Entschiedenheit des eigenen Urteils mit dem abwägenden Habitus des differenzierenden Wissenschaftlers ummantelt.

So konzedierte die Pulitz-Preisträgerin, dass es wichtig sei, „zwischen verschiedenen Arten von Gesellschaften zu unterscheiden“, und „nicht alle Formen autoritärer Herrschaft gleich sind“, und schloss daran doch unmittelbar eine vergleichende Diktaturbetrachtung an, die eine Gleichsetzung des Putin’schen Regimes mit der rechten wie der linken Spielart des Totalitarismus insinuiert: „Russland ist ein autokratisches System, das viele Ähnlichkeiten zu faschistischen und kommunistischen Diktaturen der Vergangenheit in sich trägt.“

Mit dieser Volte begegnet Applebaum sich zwar mit dem Breslauer Zeithistoriker Krzysztof Ruchniewicz, der bei grundsätzlicher Zustimmung zum Vergleich von Putin und Hitler ebenfalls den Blick stärker auf Stalin zu lenken vorgeschlagen hatte. Sie unterlief mit ihrer These aber gleichzeitig so eklatant den oben beschriebenen Stand der vergleichenden Diktaturforschung, dass ihre Einlassung nur mehr im Gestus, nicht aber im sachlichen Gehalt einem wissenschaftlichem Geltungsanspruch genügte, sondern analog zu Snyder in einen politischen Appell mündete und in diesem Fall in die Aufforderung, Russland in die militärische Niederlage zu zwingen, „angesichts der Natur des modernen Russlands, der Tatsache, dass es heute Elemente sowohl von faschistischer als auch sowjetkommunistischer Diktatur in sich trägt, wird jeder Versuch, diesen Krieg zu beenden, erst dann beginnen, wenn Russland besiegt ist oder selbst das Gefühl hat, dass es den Krieg verloren hat oder verlieren könnte.“

Putin und der russische Sicherheitsrat: Auf Respekts- oder Virenabstand im Februar 2022
AP / picturedesk.com
Putin und der russische Sicherheitsrat: Auf Respekts- oder Virenabstand im Februar 2022

Inflationäre Verwendung des Faschismusbegriffs

Fachhistorische Argumente dringen in dieser Debattenlage nicht leicht durch. Wie zuvor der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert, der vielmehr den Vergleich der postkommunistischen Staaten Russland und Serbien mit Putin und Slobodan Milosevic für aussagekräftig hielt, wies auch sein Jenaer Kollege Norbert Frei darauf hin, dass die Etikettierung Russlands als faschistischer Staat nicht haltbar sei, weil Putins Herrschaft „ die für faschistische Herrschaft charakteristische Massenbewegung (fehlt), die ihren Führer ‚trägt und von ihm getragen wird‘ und die seinem Regime jene (selbst-)zerstörerische Dynamik verleiht, die sowohl bei Hitler als auch bei Mussolini zu beobachten war“.

Mit Recht wies er auch darauf hin, dass die geradezu inflationäre Verwendung des Faschismusbegriffs seit 1945 gegen seine Erklärungskraft spreche, und er stellte in seinem abwägenden Fazit die Standards des historischen Vergleichs wieder her: „Nichts spricht dagegen, Vergleiche anzustellen und Analogien zu erwägen; vielmehr lebt die Geschichtswissenschaft davon, ebenso wie die aufklärerische Idee, aus der Geschichte lernen zu können. Aber es kommt auf die Kalibrierung an, und die sollte umso präziser sein, je gewichtiger die Vergleichsgegenstände sind.“

Nicht das Urteil selbst unterscheidet in der Putin-Debatte das fachwissenschaftliche vom geschichtspolitischen Argument – auch fachlich abgesicherte Stimmen haben auf erkenntnisfördernde Parallelen zwischen Putin und Hitler hingewiesen, wie etwa Annette Vowinckel unter Bezug auf Hannah Arendts Begriff des Totalitarismus argumentiert hat. Aber die reflektierte Kriterienverwendung und die methodische Distanzwahrung haben im Setting des historischen Vergleichs einen schweren Stand, und sie stehen stets in der Gefahr, die Autorität der professionellen Geschichtswissenschaft zu einer bloßen Geste zu reduzieren. Immer steht der historische Vergleich vor dem Problem, dass fachliche und politische Bezugnahme ununterscheidbar werden, wie ich abschließend am Beispiel des prognostischen Vergleichs erläutern möchte.

Der prognostische Vergleich

Der historische Vergleich ist verführerisch. Er dient uns als die Kristallkugel, die auf dem Umweg über die Vergangenheit einen Blick in die Zukunft erlaubt. Aber dieser Zukunftsblick ist trügerisch. Wer sich am Gestern orientiert, um das Morgen zu antizipieren, ist schon in die Irre gegangen. Das lehren die ebenso wohlfeilen wie unausrottbaren Prophezeiungen von zyklischen Wiederholungsmustern in Börsenkrisen und globalen Gewaltausbrüchen nicht erst heute. Das ganze 20. Jahrhundert war erfüllt von populären Zivilisationsvergleichen, die etwa aus dem Niedergang des Römischen Reiches auf den kommenden Verfall der Gegenwartsgesellschaft schlossen oder eine vergleichende Betrachtung des russischen Ausgreifens nach dem Westen nutzten, um daraus eine Mahnung vor dem über Jahrhunderte sich gleichenden Ausgreifen des Bolschewismus und den imperialistischen Ambitionen der Sowjetunion abzuleiten.

Putin mit seinen aus den besetzten Gebieten angereisten Statthaltern utin zusammen mit den Besatzungschefs der vier in der Ukraine besetzten Gebiete, Denis Puschilin (Donezk), Leonid Passetschnik (Luhansk), Wladimir Saldo (Cherson) und Jewgeni Balizki (Saporischschja)
Reuters
Putin mit den vier zur Annexionsfeier nach Moskau angereisten Statthaltern der in der Ukraine besetzten Gebiete am 30. September 2022

Auf die Zeit der Sozialistengesetze bezog sich der deutsche Sozialdemokrat Otto Wels in seiner mutigen Rede zum Ermächtigungsgesetz vom März 1933: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut ihre ungebrochene verbürgen eine hellere Zukunft." Wels’ Mut, solche Worte in der von tobenden Nazi-Abgeordneten und SA-Schlägern erfüllten Luft der Kroll-Oper zu sprechen, verdient Bewunderung. Aber sie beruhte auf der falschen Annahme, dass Hitlers Unterdrückung der SPD jener Bismarcks gliche, und Wels gab sich der verhängnisvollen Illusion hin, dass die deutsche Sozialdemokratie am Ende gestärkt aus der nationalsozialistischen Verfolgung hervorgehen werde – der historische Vergleich verharmloste ungewollt den mörderischen Charakter der NS-Herrschaft.

Hitlers Vergleich mit Friedrich dem Großen

Am Ende der folgenden zwölf Jahre erlag wiederum Hitler selbst auf ganz andere Weise der Suggestion eines in die Irre gehenden Vergleichs. Dass am 12. April 1945 US-Präsident Franklin Delano Roosevelt einem Hirnschlag erlag, schürte in der in Berlin eingeschlossenen NS-Führung die Hoffnung auf eine entscheidende Kriegswende in letzter Stunde, wie Joseph Goebbels auf die Nachricht hin seinem Führer sogleich enthusiastisch versicherte. Dieser groteske Glaube entsprang dem Wissen um die überraschende Rettung Friedrichs des Großen durch den plötzlichen Tod der russischen Zarin Elisabeth im Siebenjährigen Krieg, und er fußte auf dem ebenso grotesken tertium comparationis, einer engen Verbindung von Preußenkönig und Nazi-Führer.

In Hitlers letztem Wohn- und Arbeitszimmer im Bunker unter der Neuen Reichskanzlei befand sich ein einziger Kunstgegenstand – eine Kopie des bekannten Porträts Friedrichs II. von Antoine Graff. Mit dem Preußenkönig hielt Hitler Zwiesprache, mit ihm identifizierte er sich als „genialer Hasardeur“, ihn ahmte er in den letzten Wochen seines Lebens wie ein „Fridericus redivivus“ in Gang und Habitus nach, und diese Übereinstimmung unterstrich Hitler selbst bei seiner letzten Ansprache von Reichs- und Gauleitern am 25. Februar, als er zum ersten und einzigen Mal selbst öffentlich auf seinen gesundheitlichen Verfall zu sprechen kam: „Wie Sie sehen, befinde ich mich zur Zeit nicht in bester gesundheitlicher Verfassung. Mein linker Arm zittert … Jetzt erst verstehe ich so recht Friedrich den Großen, der nach Beendigung seiner Feldzüge als ein kranker, gebrechlicher Mann nach Hause kam. (…) So wie Friedrich der Große mit gebeugtem Oberkörper und geplagt von Gicht und allen möglichen anderen Leiden seine letzten Jahre verlebt hat, so hat auch bei mir der Krieg seine tiefen Spuren hinterlassen“, zitiert der Historiker Wolfram Pyta in seinem Buch „Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr“.

Aus diesem tertium comparationis und dem gleichsetzenden Vergleich mit dem „miracle de la maison de Brandenbourg“, die der Tod von Zarin Elisabeth 1762 für Friedrich bedeutet hatten, leiteten Goebbels und Hitler die hoffnungsvolle Gewissheit ab, dass der Tod des US-Präsidenten die ihnen so unnatürlich scheinende Anti-Hitler-Koalition von kommunistischen und kapitalistischen Staaten gegen Deutschland sprengen würde. Jetzt schien sich zu wiederholen, was Friedrich knapp 200 Jahre zuvor widerfahren war: „Wie der große Friedrich, so stehen auch wir einer Koalition mächtiger Feinde gegenüber. Aber auch Koalitionen sind Menschenwerk, gehalten von dem Willen einzelner weniger.“ Wie sehr sie sich irrten, bewiesen die in ihrem Bunker unter der Berliner Reichskanzlei eingeschlossenen Menschheitsverbrecher keine drei Wochen später mit ihrer Selbsttötung.

Wie sich an all dem zeigt, stellt der historische Vergleich, klug gehandhabt, ein unentbehrliches Instrument der fachlich kontrollierten Geschichtsschreibung dar und zugleich eine durch keine empirische Vetokraft eingeschränkte historische Berufungsinstanz, deren suggestive Macht darin besteht, dass sie die Vergangenheit absichtlich oder unbemerkt in einen bloßen Spiegel der Gegenwart zu verwandeln vermag.