Die Stoa des Attalos, eine zu musealen Zwecken rekonstruierte hellenistische Wandelhalle
AFP – LOUISA GOULIAMAKI
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Stoische Philosophie

Wie das Leben gelingt

Wie kann selbstbestimmtes Leben gelingen? Die stoische Philosophie hat in der Antike eine Reihe von Antworten auf diese schwierige Frage gegeben, praktische Übungen inklusive. Die Anleitungen für ihre Lebenskunst sind bis heute aktuell geblieben – gerade in Krisenzeiten.

Die Selbstformung der menschlichen Existenz sollte laut der stoischen Philosophie von der Vernunft geleitet werden. Das Ziel bestand darin, die „Sorge um sich" mit der Empathie für die Mitmenschen zu verbinden. Im Mittelpunkt stand die Frage: „Was muss ich tun, um ein gelingendes Leben zu führen?“.

Die Stoiker betonten den therapeutischen Charakter der Philosophie und verglichen sie mit der Medizin. Wie sich der Arzt um die Gesundheit des Körpers kümmert, bemüht sich der stoische Philosoph um die Gesundheit der Seele. Philosophen sind demnach Seelenärzte, die mit ihren eigenen philosophischen Lehren versuchen, zum guten Leben der Adepten beizutragen.

Dies ist besonders in Krisenzeiten, wie sie aktuell stattfinden, von Bedeutung. Diesen Aspekt hat bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel entdeckt, der betonte, dass der Stoizismus nur in einem Moment der Krise entstehen konnte. Er sei besonders hilfreich, wenn wir uns in einer Phase der Abhängigkeit von Umständen befänden, die wir nicht verändern könnten.

Foucaults „Hermeneutik des Subjekts“

Der französische Philosoph Michel Foucault (1926 -1984) bezog sich in seinem Spätwerk speziell auf die stoische „Sorge um sich“, der er wie die stoischen Philosophen eine therapeutische Aufgabe zuwies. Sie stellte für ihn das Gegenmodell zur sokratischen Forderung „Erkenne dich selbst“ dar. Foucault befasste sich intensiv mit der Problematik „wie man zu sich selbst eine adäquate und erschöpfende Beziehung herstellt, indem man sich selbst zum Ziel macht.“

Der Kopf einer zwischen 161 und 165 nach Christus gefertigten Statue des römischen Kaisers Mark Aurel steht nahe seinem Fundort im südtürkischen Sagalassos (Foto vom August 2008).
dpa/Bruno Vandermeulen/A9999

Der Kopf einer zwischen 161 und 165 n.Chr. gefertigten Statue von Marc Aurel, die im südtürkischen Sagalassos gefunden wurde.

Ö1-Sendungshinweis

„Lebenskunst. Die Philosophie der Stoa“: 12. Oktober, 21 Uhr, Salzburger Nachtstudio

Der Thematik der „Sorge um sich“ widmete sich Foucault in der Vorlesung, die er 1981/82 am Collège de France gehalten hat und die unter dem Titel „Hermeneutik des Subjekts“ im Suhrkamp Verlag erschienen ist. In diesem umfangreichen Band bezog sich der Philosoph auf das Kernanliegen der stoischen Philosophie, „über sich selbst die größte Macht zu haben, sein eigenes Eigentum zu werden“, wie Seneca schrieb.

Die „Sorge um sich“ als Befreiung

In detailreichen Interpretationen verschiedener Schriften von Seneca, Epiktet und Marc Aurel beschrieb Foucault eine Reihe von Strategien, wie die „Sorge um sich selbst“ in der Alltagspraxis konkret aussehen kann. Das heißt, das Denken, Fühlen und Handeln so zu trainieren, dass ein selbstbeherrschtes Individuum generiert wird, das sich aus gesellschaftlichen Konventionen befreit.

Foucault schrieb: „Die Sorge um sich selbst ist ein Pflicht-Privileg. Ein Gebot-Geschenk, das uns die Freiheit gewährt, indem es uns anhält, uns selbst als Gegenstand aller unserer Bemühung zu nehmen. Sie ist auch eine Bahn, über die man, alle Abhängigkeiten und alle Knechtungen vermeidend, am Ende sich selbst erreicht, wie einen sturmgeschützten Hafen oder eine von ihren Bollwerken gedeckte Zitadelle.“

Mentale und physische Übungen

Um das Ziel, sich selbst zu erreichen, bedarf es einer grundlegenden Unterscheidung, die Epiktet so formulierte: „Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen und alles andere nehmen, wie es ist. Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden – mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht. Nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht. Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremdem Einfluss.“

Das Bemühen um ein unabhängiges Leben geschieht nicht in einem einzigen Willensakt, sondern bedarf einer konsequenten Programmatik, die unbedingt eingehalten werden muss. Durch mentale und physische Übungen entwickelt der Mensch die Fähigkeit, dem anfänglich unstrukturierten In-der-Welt-Sein eine bestimmte Form zu geben. Der übende Mensch nimmt sein Leben selbst in die Hand, um „die Reichtümer seiner inneren Burg aufzusuchen“.

Innere Unruhe bekämpfen

Die Formgebung des Subjekts erfolgt laut Marc Aurel im Selbstdialog, der zu einem systematischen Übungsprogramm ausgebaut wird. Eine Übung besteht darin, sich jeden Morgen vor Augen zu halten, dass an diesem Tag Begegnungen mit „unbedachtsamen, undankbaren, unverschämten, betrügerischen, neidischen oder ungeselligen Menschen“ stattfinden könnten. Um davon nicht irritiert zu werden – bedürfe es einer Einübung in Gelassenheit, die mittels des Mantras „Keiner kann mir schaden, denn ich lasse mich nicht verletzen“ erfolgt.

Literaturhinweise:

  • Epiktet: Handbüchlein der Moral, Reclam Verlag
  • Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Reclam Verlag
  • Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften in vier Bänden, Meiner Verlag
  • Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt, Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Walter de Gruyter Verlag

Ein anderes Beispiel nannte Seneca; er bezog sich auf die Unruhe, die zahlreiche Personen verspüren: „Eine ständige Unrast treibt sie um als eine unausweichliche Folge ihres Schwebezustandes. Deshalb unternimmt man ausgedehnte Reisen ohne Ziel, man durchstreift Küste um Küste und bald zu Wasser, bald zu Land unternimmt die dem Gegenwärtigen immer abholde Leichtfertigkeit Versuch auf Versuch. Eine Reise folgt auf die andere, ein Schauspiel jagt das andere. Auf diese Weise ist ein jeder stets auf der Flucht. Aber was hilft es schon, wenn er sich nicht selber entfliehen kann? Er sitzt sich selber im Nacken und ist sein lästigster Begleiter.“

Einübung in den Tod

Das Übungsprogramm der Stoiker bezog sich auch auf den Tod. Sie sahen darin weder ein Unheil noch etwas Furchterregendes. In ihren Anmerkungen zu dieser Thematik waren sie bestrebt, eine Sichtweise zu entfalten, den eigenen Tod wie den eines Fremden distanziert – gleichsam von außen – zu betrachten. Dies muss jedoch lange eingeübt werden. Deshalb empfahlen die Stoiker die „praemeditatio mortis“- die Einübung in den Tod. „Diese besteht darin“, so Foucault, „den Tod im Leben gegenwärtig zu machen“.

Das stoische Konzept der „Sorge um sich“ verstand Foucault keineswegs als bloßen Rückzug auf sich selbst, als Feier einer komfortablen Innerlichkeit, die immer raffinierte Mitteln findet, um einen komfortablen Lebensstil zu entfalten. Es geht vielmehr darum, das In-der-Welt-Sein des Einzelnen kritisch zu überprüfen, Abstand zu gewinnen. Die „Sorge um sich“ leitet uns zu einem vernunftgeleiteten Handeln an; sie isoliert uns nicht von der Gesellschaft, sondern veranlasst uns, durch Selbstkontrolle einen angemessenen Platz in ihr einzunehmen.

Foucault schrieb: „Die Selbstkultur – eine Ethik der Selbstbeherrschung, der Selbstbemeisterung und Selbstüberlegenheit – ist also weniger als eine gegen das politische, staatsbürgerliche, wirtschaftliche, familiale Handeln gerichtete Entscheidung zu verstehen, sie ist vielmehr eine Weise, dieses Handeln in den als angesehenen Grenzen und Formen zu halten.“