Demonstration wütender Männer
Rick – stock.adobe.com
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Zwischen Lügen, Hass und Krieg

Von digitaler Kommunikation und Künstlicher Intelligenz bis zurück in die Antike: Hassreden sind ein Jahrtausendphänomen. Nicht immer führen sie zu kriegerischer Gewalt, doch an allen Kriegen waren Lügen und Hass als verbale Mittäter beteiligt, schreibt der Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits in einem Gastbeitrag.

Die Grenzbereiche zwischen analogen und digitalen Diskursen sind längst diffus geworden. Die Dimensionen vervielfältigter Lügen, Hassreden und Vorwände für analoge Gewalt weiten sich kontinuierlich aus. Versuche, diese rasante Entwicklung einzudämmen, hinken im digitalen Bereich auf teils erbärmliche Weise hinterher. Auch die zunehmend steuerbare Gleichstellung wahrer und falscher Informationen wird künftig zu den gravierenden individuellen und kollektiven Risiken zählen. Indem die technologischen Methoden bereitzustehen beginnen, könnten fortan wahre und nützliche von schädlichen oder nur bestimmten Partikularinteressen dienenden Informationen nicht mehr unterschieden werden.

Über den Autor

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist Autor der Bücher „Minimale Moral“ (2016), „Verbalradikalismus“ (2021, 2. Aufl.) und aktuell „Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes“ (Verlag Königshausen&Neumann).

Lügen zweiter Ordnung

Ununterscheidbarkeit von wahr und falsch destabilisiert den gesamtgesellschaftlichen Dialog auf einer sehr tief liegenden sprachlichen Ebene. Tektonische Spracherschütterungen scheinen unausweichlich, sobald Lügen, Relativierungen und Manipulationen mit atemberaubender Perfektion auch in Kommunikationsplattformen infiltriert werden. Derartige subkutane, aktive Steuerungen und Beeinflussungen können künftig nicht nur zur manipulierten Meinungsänderung kleinerer Gruppen von Menschen führen. Bei entsprechender Skalierung könnten diese sogar zum gelenkten Vertrauensverlust und Meinungsumschwung ganzer Sinusmilieus und somit wesentlicher Teile von Gesellschaften missbraucht werden.

Zu den bestehenden cleavages, den kritischen Bruchlinien in der Gesellschaft, wird fatalerweise jene der Relativierung von wahr und falsch, als algorithmenbasierte „Lüge zweiter Ordnung“ hinzukommen. In bestehende Diskurse infiltriert, können mit derartigen Täuschungsmanövern politisch und wirtschaftlich messbare Effekte erzeugt werden, die beispielsweise zu Verzerrungen der Preisbildung auf den globalen Märkten oder zu Verfälschungen bei nationalen Wahlentscheidungen führen.

Artificial Intelligence und ethische Defizite

Ethische Regelwerke, als politisch und wirtschaftlich bindende Verpflichtungsrahmen, wären daher bereits während der Entwicklung von AI (Artificial Intelligence) dringend vonnöten und demgemäß ein Gebot der Stunde. Dass die Kräfte des Marktes für ausgleichende Wirkung zwischen ethischen Forderungen und der gewinnorientierten Entwicklung von AI und ML (Machine Learning) sorgen könnten, darf bezweifelt werden. Die ersten dünnen nationalen und supranationalen Leitlinien existieren bereits. Doch mit der ungleich schnelleren und mit gewaltigen finanziellen Ressourcen ausgestatteten globalen Entwicklung von AI und ML können diese nicht einmal ansatzweise mithalten.

Um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, werden die Unternehmen und Konzerne auf dem Gebiet der Entwicklung und Distribution von AI und ML die moralischen Selbstverpflichtungen voraussichtlich weitgehend ignorieren oder umgehen.

Lügen als neue Diskursqualität

Die dringende Notwendigkeit eines ethischen Korsetts für die bereits pulsierende Entwicklungsdynamik von AI besteht nicht aufgrund ihres gegenwärtigen basalen Entwicklungsstandes, sondern ob der Möglichkeiten, in welche Forschungen ihrem Wesen nach immer drängen müssen und werden. Auch die verschiedenen AI-Sprachmodelle sind noch längst nicht in der Lage, einen Beitrag zur Balance der digitalen Kommunikation zu leisten. Im Gegenteil, es besteht sogar das Risiko, dass dominante Narrative durch LLM (Large Language Models) privilegiert und bereits marginalisierte Bereiche der Gesellschaft durch AI-Sprachmodelle noch weiter ausgegrenzt werden. Denn dominante Diskurse sind nicht notwendigerweise Diskurse von Relevanz, sondern weisen lediglich erhöhtes Publikumsinteresse auf.

Es könnte im Zuge der selbstlernenden AI in absehbarer Zeit auch die Schwelle des Vertrauens überschritten werden. Möglicherweise werden Menschen künftig dazu bereit sein, einen erheblichen Anteil an Simulation, d. h. Täuschung und Lüge, als deren neue Diskursqualität zu akzeptieren. Dieser qualitative Sprung hat gleichfalls diskursive Implikationen, sobald algorithmenbasierten AI-Entscheidungen eher und bereitwilliger vertraut wird als menschlichem Denken, Ermessen und Entscheiden.

Kulturgeschichtliche Konstanten

Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass Lügen, Hasssprache und die durch diese Phänomene befeuerten Gewalttaten den gesamten Zivilisationsprozess begleiteten. Diese standen und stehen nicht nur im Zentrum antiker Imperien und totalitärer Staaten der Gegenwart, sondern bedrohen auch stabile Demokratien mit ihrem gesellschaftlich zersetzenden Gift.

Der globalisierte Hass wirkt wie eine stabile Achse durch die Jahrtausende. Der Bogen sprachlicher Gewalt reicht von einigen der „blutgetränkten“ Texte des Alten Testaments bis zur lügendurchsetzten Hasssprache des Imperium Romanum; und von jener der rohen und gehässigen Zeiten der Kreuzzüge über die Hassreden des erbarmungslosen Kolonialismus bis hin zu den totalitären Sprachdeformationen der Gegenwart.

Das von Ethik getragene Wort ist leise

Massive Abweichungen von der Wahrheit, systematischer Betrug und verbalisierter Hass erzeugen gesamtgesellschaftliche Verwerfungen, die nicht selten in kriegerische Auseinandersetzungen münden. Denn an den spannungsreichsten Punkten des Diskurses überschreitet die Tat oftmals das Wort, so, als ob das Archaische aus der Sprache hervorbräche.

Lügen und Täuschungen sind jene informationelle Basis, welche in der Art von Vektoren die Richtung des Denkens im Vorfeld von Gewalt begleiten und beeinflussen. Hass hingegen ist der Treibstoff, der die Grundlage für die zunehmende Beschleunigung, auch jene der tödlichen Kriegsdynamik, bildet. Lüge, Hass und Krieg sind eine brüllende, todbringende Verbindung eingegangen, sie wecken einander auf, wirken amplifizierend und kumulierend. Hasssprache als Gewalt durch Sprache bleibt demzufolge ein höchst gefährliches Vorbereiterphänomen. Das von Ethik getragene Wort hingegen ist leise. Dennoch bliebe es zu allen Zeiten machtvoll genug, um zu verhindern, dass Lügen, Hass und kriegerische Gewalt weiterhin mühelos die Epochen durchschreiten.