Kind auf einer Treppe
dpa-Zentralbild/Arno Burgi
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Gehirnentwicklung

Frühe Adoption für Kinder aus Heimen besser

Bestimmte Hirnbereiche von Kindern aus Heimen sind laut einer aktuellen US-Studie nicht ihrem Alter entsprechend entwickelt. Das könnte zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Eine frühe Adoption könnte aber einige Defizite ausgleichen. Untersucht wurden Buben und Mädchen, die unter extremen Bedingungen in rumänischen Waisenheimen aufgewachsen sind.

Von Geburt an lernen wir. Noch im Mutterleib werden im menschlichen Gehirn mehrere Milliarden Nervenzellen angelegt und erste Informationen werden aufgenommen. Mit jedem Sinneseindruck, den Kinder sammeln, werden die Neuronen trainiert und neue Verbindungen entstehen. Damit sich die kleinen Gehirne gut entwickeln können, müssen sie auch immer wieder gefordert werden.

„Neugeborene können beispielsweise noch nicht scharf sehen. Dadurch, dass die Eltern immer wieder ihr Kind beobachten, lernen die Kinder das Gesicht ihrer Eltern scharfzustellen. Und weil die Kinder die Gesichter ihrer Eltern immer wieder sehen, entsteht eine Verlässlichkeit und eine Bindung“, erklärt Thomas Pletschko. Der Neuropsychologe von der medizinischen Universität Wien betont: „Besonders intensiv ist die Hirnentwicklung in den ersten Lebensjahren. Wenn zu wenig Anregung stattfindet, dann wirkt sich das auch auf die Entwicklung aus.“

Wie sich sehr schwere Vernachlässigung auf Kindergehirne auswirken kann, zeigt jetzt eine US-Studie, die im Fachmagazin „Science Advances“ erschienen ist. Experten sprechen dabei auch von Deprivation. Also dem Fehlen oder dem Entzug von sozialen Kontakten. Die neue Studie ist Teil des „Bucharest Early Intervention Project (BEIP)“. Im Jahr 2001 wurden dafür 136 Kinder aus rumänischen Waisenheimen ausgewählt. Per Zufallsprinzip wurde die Hälfte von ihnen im Alter von sechs bis 33 Monaten bei gut geschulten Pflegefamilien untergebracht. Die anderen Kinder blieben im Heim. Als Kontrollgruppe wurden zusätzlich 72 Kinder ausgewählt, die in ihren Familien aufwuchsen. So konnten die Forscher und Forscherinnen Daten über die Entwicklung der Kinder sammeln und vergleichen.

Hirnregionen nicht altersgemäß entwickelt

Die vielen Studien deuten darauf hin, dass eine frühe Heimunterbringung sowohl kognitive Fähigkeiten als auch emotionale und soziale Verhaltensweisen negativ beeinflussen kann. Kinder, die vor dem zweiten Lebensjahr adoptiert werden, könnten jedoch einige der Defizite besser wieder ausgleichen.

Mit der neuen Studie ergänzen die US-Wissenschaftler und -Wissenschaftlerinnen diese Hinweise. Untersucht wurden die Hirnscans von einigen der Kinder im Alter von neun und 16 Jahren. Dabei stellten die Forschenden fest: Eine bestimmte Hirnregion der Jungen und Mädchen, die ganz oder teilweise in Heimen aufgewachsen sind, war nicht so weit entwickelt wie die Hirnregion der Kinder, die in ihrer Familie aufgewachsen sind.

Der betroffene Hirnbereich ist der präfrontale Cortex. Das ist ein Teil der Großhirnrinde. Also der Teil des Gehirns, der direkt hinter unserer Stirn liegt. „Der präfrontale Cortex ist die Gehirnregion, die am spätesten ausreift, nämlich noch bis ins junge Erwachsenenalter“, erklärt Stefanie Höhl. Sie ist die Leiterin des Arbeitsbereichs Entwicklungspsychologe an der Universität Wien. „Diese Struktur ist wichtig für unsere Impulskontrolle, die Aufmerksamkeitsteuerung und flexibles Denken. Im Laufe der Adoleszenz werden nicht genutzte Synapsen verstärkt ausgedünnt und die Kontrolle über die betroffenen Funktionen wird besser“, so Höhl. Bei einer gesunden Entwicklung wird die Hirnregion bis ins Erwachsenenalter also immer dünner und das kann man auch messen.

Vor dem zweiten Lebensjahr in Pflegefamilien

Die Ergebnisse der US-Studie zeigen: Bei Kindern, die eine Zeit lang oder ganz in Heimen aufgewachsen sind, ist der präfrontale Cortex nicht so dünn wie bei Kindern, die in einer Familie geboren und dort aufgewachsen sind. Außerdem ist laut der Forschenden entscheidend, wann ein Kind adoptiert wird. Der präfrontale Cortex von Kindern, die vor dem zweiten Lebensjahr adoptiert wurden, war dünner als der von Kindern, die länger in Heimen untergebracht waren. Für die Studienautorinnen und -autoren unterstreichen die Ergebnisse vor allem, wie wichtig Pflegefamilien und ähnliche Modelle als Alternative zu Heimunterbringungen sind.

Wenn die Entwicklung der Hirnregion verzögert ist, könnte sich das vor allem auf die Fähigkeiten, für die der präfrontale Cortex zuständig ist, auswirken, z.B. die Impulskontrolle und Aufmerksamkeitssteuerung. „Wir sprechen von ADHS-ähnlichen Symptomen und in späteren Lebensphasen könnten Betroffene zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Lernorganisation haben, also ‚wie teile ich mir Dinge ein?‘“, sagt Pletschko.

Extreme Bedingungen

Die Ergebnisse der Studie sind nur bedingt auf andere Kinder übertragbar. „Wir haben es hier mit absoluten Extremfällen von Vernachlässigung zu tun“, weiß Höhl. Unter dem national-kommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu lebten in Rumänien in Waisenheimen Tausende Kinder unter unmenschlichen Bedingungen. Erst nach den Aufständen gegen das Regime und nach der Hinrichtung Ceausescus 1989 wurden die grausamen Bedingungen in den rumänischen Heimen bekannt. Die Jungen und Mädchen waren durch fehlende emotionale Nähe, Misshandlungen und Vernachlässigung unterentwickelt und verstört. Viele Familien aus westlichen Ländern adoptierten die Kinder und auch das „Bucharest Early Intervention Projekt“ entstand.

Die Einteilung der Kinder in Gruppen ist aus heutiger Sicht ethisch nicht ganz einfach. „Zum damaligen Zeitpunkt gab es in Rumänien noch kein Pflegefamilien-System. Das heißt, es wurden keine Kinder einer potenziellen Förderung beraubt. Zusätzlich hat die Studie wohl zu einigen positiven Veränderungen beigetragen, sowohl was die Heime betrifft als auch die möglichst frühzeitige Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien“, meint die Entwicklungspsychologin.

Auch wenn die Studie nicht direkt übertragbar ist, können Experten und Expertinnen viel dadurch lernen. So hat das Projekt gezeigt, wie wichtig insbesondere die ersten zwei Lebensjahre für die Gehirnentwicklung und Psyche sind. Laut Höhl ließe sich das durchaus auf Kinder im Allgemeinen übertragen, da es mit Daten übereinstimme, die Entwicklungspsychologen und -psychologinnen weltweit in anderen Kontexten gesammelt hätten.