Nachbildung eines Neandertalers
APA/dpa/Federico Gambarini
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Genetik

Das Familienleben der Neandertaler

Das Erbgut von 13 Neandertalern, die vor etwa 55.000 Jahren im heutigen Sibirien lebten, hat ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Wien analysiert. Die Studie bietet bisher noch nie dagewesene Einblicke in die soziale Struktur des Familienlebens von Neandertalern.

Neandertaler lebten in kleinen Gemeinschaften mit ihren nahen Verwandten zusammen. Das wird bereits länger vermutet, die familiären Stränge aber tatsächlich zu belegen und genauer zu untersuchen war bisher kaum möglich.

Der schwedische Nobelpreisträger Svante Pääbo entschlüsselte 2010 erstmals das Erbgut eines Neandertalers, danach folgten noch 17 weitere Genome dieser Menschenart. Informationen über die familiären Zusammenhänge waren damit aber noch nicht möglich, denn die untersuchten Überreste stammten meist aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen und auch die dafür nötige Technik wurde erst in den letzten Jahren entwickelt.

Erbgutsuche in sibirischen Höhlen

Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Wien hat daher das Erbgut von 13 weiteren Neandertalern untersucht, die vor etwa 55.000 Jahren im heutigen Sibirien gelebt haben. Dort machten sie – vermutlich saisonal – Jagd auf Bisons. Ihre Beute brachten sie anschließend in Höhlen, in denen sie zusammenlebten.

Chagyrskaya Höhle, Sibirien, Neandertaler
Bence Viola
Die Tschagyrskaja-Höhle in Sibirien

Die Forscherinnen und Forscher um den dänischen Bioinformatiker Laurits Skov und Nobelpreisträger Pääbo konnten das Erbgut von elf Neandertalern aus der westsibirischen Tschagyrskaja-Höhle und von zwei weiteren Neandertalern aus der nur 100 Kilometer entfernten Okladnikow-Höhle genauer erforschen. Die bisher größte Studie zur Neandertaler-Genetik präsentiert das Team aktuell im Fachjournal „Nature“.

Schnappschuss familiärer Gemeinschaften

Das Forschungsteam fand vergleichsweise gut erhaltene Überreste von sieben männlichen und sechs weiblichen Individuen. Acht der Neandertaler waren Erwachsene und fünf waren Kinder und Jugendliche. „Die Höhlen in Sibirien sind sehr wichtig für die Forschung, weil durch die dort herrschende Kälte die Überreste ihrer früheren Bewohner gut erhalten bleiben“, sagt der an der Studie beteiligte Anthropologe Thomas Higham von der Universität Wien gegenüber science.ORF.at.

Dass die neu untersuchten Neandertaler Teil derselben Population waren, konnte anhand ihres Erbguts nachgewiesen werden. Genetisch unterscheidet es sich deutlich von früher untersuchten Neandertalern aus der rund 100 Kilometer östlich befindlichen Denissowa-Höhle. Anders als bei dem schon länger bekannten Erbgut sind viele der neu gefundenen Überreste relativ gleich alt. Die Forscherinnen und Forscher gehen daher davon aus, dass sie von Neandertal-Gemeinschaften stammen, die die sibirischen Höhlen auch tatsächlich zur selben Zeit bewohnt haben.

Erbgut zeigt nahe Verwandtschaft

Unter den Überresten in der Tschagyrskaja-Höhle waren auch jene eines Vaters und seiner Tochter im Teenageralter. Außerdem zeigten die Knochen eines jungen Burschen eine Verwandtschaft zweiten Grades mit einer ebenfalls in der Höhle gefundenen erwachsenen Frau. Laut dem internationalen Forschungsteam könnte es sich dabei um seine Großmutter, Tante oder Cousine handeln.

„Es ist uns das erste Mal gelungen, tatsächlich Einblicke in die sozialen Strukturen der Neandertaler in Sibirien zu bekommen – das ist ein sehr großer Schritt im Bereich der Genetik und könnte einige künftige Untersuchungen auf dem Gebiet anregen“, so Higham.

Bei manchen der Individuen konnten die Forscherinnen und Forscher auch bestimmte genetische Varianten finden, die nur über wenige Generationen hinweg vererbt werden. Sie wiesen zwei unterschiedliche Versionen mitochondrieller DNA auf, die mütterlich vererbt wird. Auch das sei ein Hinweis auf eine nahe Verwandtschaft. Zwei der in Sibirien gefundenen Neandertaler hatten demnach eventuell eine gemeinsame Großmutter.

Frauen schlossen sich Männern an

Dass sich die untersuchten Neandertaler genetisch so stark von einer anderen Gruppe unterschieden, die nur 100 Kilometer östlich gefunden wurde, sei ein Beweis für eine gewisse Isolation der Neandertaler in Sibirien. Die Männer blieben demnach wahrscheinlich oft in den Gruppen und Familien, in denen sie auch aufgewachsen sind.

Komplett isoliert lebten aber auch die sibirischen Neandertaler nicht. Das untersuchte Erbgut weist darauf hin, dass vor allem Frauen immer wieder zu anderen Gruppen kamen und dort bei ihren Partnern blieben. Die mitochondrielle DNA, die von den Müttern vererbt wird, zeigte eine deutlich größere Vielfalt als die Y-Chromosomen, die von den Vätern weitergegeben werden. Das lasse auf einen größeren weiblichen als männlichen externen Input schließen.

Kleinere Gruppen als bei Homo sapiens

Die genetische Vielfalt in den untersuchten Überresten aus Sibirien war aber generell nicht besonders stark ausgeprägt. Das sei laut dem Forschungsteam ein weiterer Hinweis darauf, dass die Neandertaler dort in sehr kleinen Gemeinschaften von nur zehn bis zwanzig Personen zusammenlebten. Gruppen der Homo sapiens waren hingegen meist viel größer. Die genetische Vielfalt in den sibirischen Gruppen sei daher eher mit den heute lebenden Berggorillas vergleichbar – einer Art, die vom Aussterben bedroht ist.

Ob das aber tatsächlich auf alle Neandertaler zutrifft oder nur auf jene, die sich am Rand ihres Ausbreitungsgebiets angesiedelt haben, müsse erst noch genauer untersucht werden. Immerhin könnten auch die schwierigen Lebensbedingungen in Sibirien mit den kleineren Gruppengrößen zusammenhängen. Higham geht etwa davon aus, dass sich irgendwann eine kleine Gruppe Neandertaler in Richtung Osten aufgemacht hat und in Sibirien Fuß fassen konnte. Demnach sei es auch wahrscheinlich, dass westlichere Gruppierungen größer waren. „Um das zu belegen braucht es aber noch weitere Untersuchungen und vor allem noch mehr gut erhaltene Überreste der Neandertaler“, so der Anthropologe.