Am Jamtalferner in der Silvretta brachen durch die starke Schmelze und das unterhöhlte Eis Eisbrocken von Rand ab, ein Mechanismus der den Zerfall beschleunigt
Lea Hartl
Lea Hartl
Gletschertagebuch

Schmelze dreimal so stark wie im Schnitt

Wie Zahlen nun belegen, war die Gletscherschmelze im Jahr 2022 tatsächlich extrem. In nur einem Sommer verloren die Gletscher teilweise mehr als dreimal so viel Masse wie im Schnitt der letzten 30 Jahre. Statt einem Meter gingen heuer drei Meter der Eisschicht im wahrsten Sinne des Wortes den Bach hinunter, berichten die beiden Glaziologen Andrea Fischer und Hans Wiesenegger.

Porträtfotos von Andrea Fischer und Hans Wiesenegger
Fischer/Wiesenegger

Über Autorin und Autor

Andrea Fischer ist stv. Leiterin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck, Hans Wiesenegger Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg.

Auch wenn vielerorts die Temperaturen des Sommers 2003 noch über denen des Sommers 2022 lagen, war doch die Schmelze 2022 an den meisten Gletschern deutlich stärker. Das liegt daran, dass die Gletscher durch den Verlust der Firnschicht heute wesentlich dunkler sind als vor 20 Jahren, und dadurch ein höherer Anteil des Sonnenlichts von der Oberfläche aufgenommen wird und die Schmelze antreibt.

Obwohl die Gletscher heute kleiner sind als vor 20 Jahren, waren an vielen Gletschern die abfließende Schmelzwassermenge größer als im bisherigen Extremjahr 2003. Dieses Schmelzwasser führte zu hohen Wasserständen in den Gletscherbächen, und teils zu schwierigen Wegverhältnissen.

Stubacher Sonnblickkees

Dem Stubacher Sonnblickkees hat der Sommer heuer wieder stark zugesetzt. Im Vergleich zum Vorjahr sind alle Pegel im Durchschnitt um mehr als zwei Meter mehr ausgeapert. An der Zunge waren es fast 5,5 Meter Eisverlust und die auf einer Seehöhe von 2.900 bis 2.950 Metern gelegenen obersten Pegel sind über zwei Meter ausgeapert.

Eisdickenverteilung Stubacher Sonnblickkees
Hans Wiesenegger
Stubacher Sonnblickkees mit Bereichen (Felsinseln), in denen der Gletscher in den nächsten Jahren zerfallen wird

Aufgrund der nur mehr sehr geringen Eisdicke im Bereich der neu entstandenen Felsinseln wird das Stubacher Sonnblickkees in den nächsten Jahren in vier Teile zerfallen, bis es schließlich ganz verschwindet. An der dicksten Stelle, im Bereich des Filleckbodens, besitzt der Gletscher noch eine Eisdicke von rund 40 Metern. Im oberen Bereich, der an Granatspitze und Stubacher Sonnblick grenzt, sind es allerdings nur noch ca. 20 bis 30 Meter, wie bei einer im Februar 2022 durchgeführten Eisdickenmessung festgestellt werden konnte. Erste Abschätzungen der spezifischen Massenbilanz lassen für heuer einen Negativrekord erwarten, der noch deutlich über dem Ergebnis des Jahres 2003 liegt und vielleicht sogar den bisher bekannten größten Verlust aus dem Jahr 1947 übertrifft.

Ödenwinkelkees

Auch das Ödenwinkelkees, ein langgestreckter und schuttbedeckter Kar- bzw. Talgletscher im oberen Stubachtal, hat wieder deutlich an Masse verloren. Wie aus dem Bildvergleich der Drohnenflüge 2021 und 2022 erkennbar, zerfällt die ausgeprägte Gletscherzunge, die aktuell auf ca. 2.200 Meter Seehöhe liegt, immer mehr.

Vergleich 2021/22 Sonnblickkees
Fotos: Bernhard Zagel/Bearbeitung: Hans Wiesenegger
Bildvergleich Ödenwinkelkees 2021 und 2022

Dachstein

Der Hallstätter Gletscher war erstmals seit Beginn der Messungen im Jahr 2006 völlig schneefrei. Er hat 2022 rund sechs Prozent seines gesamten Volumens verloren, unterhalb des Eissteins sind große Felsbereiche freigeschmolzen. Die Verbindung zum Schladminger Gletscher reißt ab. Besteiger und Bergsteigerinnen am Hohen Dachstein mussten sich heuer den Weg durch viele und große Gletscherspalten bahnen.

Halstätter Gletscher
Kay Helfricht
Das Licht dringt bereits durch die dünne Eisschicht des Hallstätter Gletschers in die Höhle.

Hohe Tauern

Für das Mullwitzkees im Nationalpark Hohe Tauern in Osttirol berichtet Martin Stocker Waldhuber vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) für das Jahr 2021/22 von einem Schmelzrekord seit Beginn der Messungen im Jahr 2006. Am Ende der Ablationsperiode waren keine Rücklagen mehr am Gletscher vorhanden. Selbst in hochgelegenen Firngebieten, in denen in normalen Jahren ein bis zwei Meter Schnee den Sommer überdauerten, verschwand der Schnee völlig, und bis zu 2,5 Meter Eis schmolzen dahin.

Für die Pasterze, Österreichs größtem Gletscher, berichtet Anton Neureiter (ZAMG) von etwa verdoppelten Schmelzraten. Während die Pasterze in Durchschnittsjahren etwa 1,6 Meter Eis verliert, waren es 2022 3,7 Meter. Die Verbindung zwischen dem oberen Teil und der Gletscherzunge ist zwar ausgedünnt, aber nicht abgerissen (Webcam).

Die Längen-, Höhen- und Bewegungsmessungen an der Pasterze und den beiden benachbarten Gletschern Wasserfallwinkelkees und Freiwandkees, welche durch ein Team der Grazer Geographie und der Leitung von Andreas Kellerer-Pirklbauer im Rahmen des Gletschermonitorings des Österreichischen Alpenvereins alljährlich durchgeführt werden, lieferten Mitte September ein Bild der weiteren Abnahme der Gletscherdynamik an der Pasterze sowie einen massiven Längenverlust, der jenen von 2019/20 und 2020/21 übertraf.

Ötztaler Alpen

Auch an Hintereis- und Kesselwandferner im Tiroler Ötztal schlägt das Jahr 2022 alle bisherigen Negativrekorde der letzten 70 Jahre, wie Rainer Prinz von der Universität Innsbruck berichtet.

2022 verlor der Hintereisferner über drei Meter Eis, das entspricht fünf Prozent seines gesamten Volumens. Auch am bis über 3.800 Meter hinaufreichenden Hintereisferner gab es keine Schneerücklagen mehr, und auch keine nennenswerten Sommerschneefälle. Markus Strudl berichtet auch für den Seekarlesferner von einem Verlust von mehr als drei Meter Eis.

Silvretta

Am Jamtalferner in der österreichischen Silvretta ist die Schmelze mit 3,6 Meter Eisverlust fast doppelt so stark ausgefallen als 2003, wo nur etwas über zwei Meter Eis verloren gingen. Trotz der seit 2003 um ein Viertel kleineren Gletscherfläche ist im Sommer 2022 mehr Schmelzwasser abgeflossen als 2003. Der Gletscher ist großflächig unterhöhlt, die Schmelze an der Unterseite des Eises ist in den derzeitigen Messdaten noch nicht erfasst.

Massebilanz Jamtalferner
Andrea Fischer
Die Ausnahmeschmelze des Jahres 2022 sticht in der Massenbilanzreihe des Jamtalferners klar hervor, an diesem Gletscher schmolz 2022 etwa die dreifache Eismenge im Vergleich zu einem durchschnittlichen Jahr

Schweiz

In der Schweiz sind die Auswertungen weitgehend abgeschlossen. Wie Andreas Bauder von der ETH Zürich berichtet aperten auch in den Schweizer Alpen die Firngebiete stark aus. Hier sind die Unterschiede auch zu den vergangenen Extremjahren enorm. Im Unterschied zu den Rekorden in den hohen Lagen waren die tiefliegenden Gletscherzungen der großen Gletscher auch in den letzten Jahren bereits früh schneefrei und wiesen starke Schmelzraten auf, sodass hier keine neuen Rekorde zu verzeichnen waren.

Viele neue Felsinseln, die aus dem Eis aufgetaucht sind, machen bei kleineren Gletschern das Ende greifbar, da sie regelrecht in Einzelteile zerfallen. Auch mehrere Messpegel wurden vom rasanten Rückzug der Gletscherzungen oder einem der vielen neuen Einsturzkrater „aufgefressen“. Detaillierte Ergebnisse sind auf der Homepage des Schweizer Messnetzes GLAMOS veröffentlicht.

Südtirol

Schon der Winter des hydrologischen Jahres 2021/22 hat den Gletschern Südtirols besonders übel mitgespielt: Das einzige größere Niederschlagsereignis fand Anfang November statt, der Rest der hydrologischen Winterperiode gestaltete sich jedoch eindeutig zu trocken. Somit haben sich weit unterdurchschnittliche mittlere spezifische Winterbilanzen von 40 bis 50 Prozent unter dem langjährigen Mittel ergeben. Ähnlich schneearm war in den letzten 30 Jahren nur das Winterhalbjahr 2007.

Der Sommer 2022 geht als zweitwärmster Sommer seit Messbeginn im Jahr 1850 in die Wettergeschichte ein. Noch wärmer war nur der Sommer 2003. Nach der frühzeitigen Ausaperung der Gletscher, die bereits Ende Juli komplett schneefrei waren, fiel erst im September nennenswerter Schnee im Hochgebirge. Da gab es im Hochsommer für die Gletscher kaum Verschnaufpausen. Die vorläufigen Jahresbilanzen liegen bei drei bis vier Meter Eisverlust, wobei die negativsten Ergebnisse in den südlichen und westlichen Landesteilen Südtirols (Ortler-Gebiet und Ötztaler Alpen) zu verzeichnen sind.

Eismessungen am Übeltalferner
Roberto Dinale
Am Übeltalferner (Südtirol) sind im Sommer 2022 am Pegel5 auf 2850 m ü.S. 4,75 m Eis geschmolzen

Auf der Nordhalbkugel

Für Grönland berichtet Jakob Abermann von der Universität Graz diesen Sommer von einem unterdurchschnittlichen Massenverlust, was ein wiederkehrendes Phänomen ist: Wenn das Wetter in den Alpen besonders ungünstig für die Gletscher ist, ist es oft im Nordatlantik etwas kühler als im Durchschnitt. Trotzdem endete das Bilanzjahr mit einem (vergleichsweise leichten) Massenverlust.

Interessant war eine außergewöhnlich warme Phase im September, in der es viel später als üblich noch zu erheblicher Schmelze gekommen ist. Sowohl an der Ostküste Grönlands durch die Errichtung einer neuen österreichischen Polarstation als auch an der Westküste im Rahmen eines neuen Reconnaissance-Projektsgibt es neue Forschungsaktivitäten zu Eis und Klima in Grönland.

Auch in anderen Teilen der Nordhalbkugel sind die Gletscher wie in den Ostalpen sehr stark vom Klimawandel betroffen. Bruce Raup (GLIMS) zeigt in einer Zeitreihe von Satellitenbildern das Verschwinden der Gletscher Colorados binnen weniger Jahre auf.

Auch die Bildung neuer Seen, die teils unter das Eis reichen, beschleunigt die Schmelze (Jamtalferner/ Silvretta)
Lea Hartl
Auch die Bildung neuer Seen, die teils unter das Eis reichen, beschleunigt die Schmelze (Jamtalferner/ Silvretta)

Momentan sind die Gletscher Österreichs von einer dünnen, für die Jahreszeit eher unterdurchschnittlichen Schneeschicht bedeckt. Der Altweibersommer erfreut die Menschen in den Tälern, führt aber zu Trockenheit und sehr hoher Nullgradgrenze an den Gletschern. Es wäre wünschenswert, dass jetzt noch Herbstniederschläge fallen, die erheblich zur Akkumulation des Winterhalbjahrs beitragen, und es so im nächsten Jahr eine bessere Ausgangslage gibt, um dem Klimawandel noch ein paar Jahre länger zu trotzen.