Untersuchung Ötzis in Südtirol. Das Südtiroler Archäologiemuseum ist der Ausstellungsort des „Mannes vom Tisenjoch“.
Südtiroler Archäologiemuseum/EURAC/ Samadelli/Staschitz
Südtiroler Archäologiemuseum/EURAC/ Samadelli/Staschitz
Studie

Ötzis Geschichte muss umgeschrieben werden

Die Geschichte von Ötzi muss mehr als 30 Jahre nach dem Fund laut einer neuen Studie zum Teil umgeschrieben werden. Ötzi sei vor 5.300 Jahren nicht im Herbst gestorben und danach unter Eis begraben worden, sondern im Frühling oder Sommer – und er wurde immer wieder durch Schmelzprozesse freigelegt.

Sie gehört zu den ältesten und weltweit am besten erhaltenen Mumien: die 5.300 Jahre alte Gletschermumie namens Ötzi. Gefunden wurde sie im Jahr 1991 in einer Rinne am Tisenjoch nahe der italienisch-österreichischen Grenze.

Der Fund war damals eine Sensation und von unschätzbarem Wert für mehrere wissenschaftliche Bereiche. „Für die Archäologie ist Ötzi eine sehr gut erhaltene Mumie aus einer Epoche, aus der wir in unseren Breiten sonst nur Artefakte oder weniger gut erhaltene Mumien kennen“, erklärt die Gletscherforscherin Andrea Fischer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). „Für die Glaziologie und die Klimatologie ist Ötzi außerdem unglaublich spannend, weil er Zeuge der letzten wirklichen Warmzeit im Alpenraum war, in der die Temperaturen ähnlich hoch waren wie heute“, so Fischer gegenüber science.ORF.at.

Luftaufnahme des Tisenjochs aus dem Jahr 1989. Der schwarze Pfeil rechts unten im Bild zeigt die Stelle, an der Ötzi 1991 entdeckt wurde. Heute ist die Fundstelle eisfrei.
Gernot Patzelt
Luftaufnahme des Tisenjochs aus dem Jahr 1989. Der kleine schwarze Pfeil rechts unten zeigt die Fundstelle von Ötzi. Heute ist der Bereich eisfrei.

Neue Puzzleteile …

Wie Ötzi über mehrere tausend Jahre hinweg so gut erhalten blieb und wie er gestorben ist, beschäftigt die Wissenschaft schon, seit die Gletschermumie gefunden wurde. Immer wieder kam es dabei zu neuen Erkenntnissen, die zum Teil auch frühere Annahmen widerlegten. „Man kann sich das wie eine Art Puzzle vorstellen – jeder technische Fortschritt ermöglicht es uns, etwas Neues über Ötzi zu erfahren“, so Fischer.

Die österreichische Gletscherforscherin war Teil eines Teams aus Norwegen und der Schweiz, das weitere Teile zum Ötzi-Puzzle hinzufügen wollte. Dazu rekonstruierten die Forscherinnen und Forscher die Eismengen an der Fundstelle der Gletschermumie, führten Analysen der umliegenden Gletscher durch und untersuchten bereits gesammelte Daten erneut – mit moderneren Mitteln. Die daraus entstandene Studie präsentieren die Expertinnen und Experten derzeit im Fachjournal „The Holocene“. Die neuen Erkenntnisse machen es laut Fischer jetzt nötig, die offizielle Geschichte von Ötzi zumindest teilweise umzuschreiben.

… widerlegen Annahmen

Lange Zeit stand vor allem die Frage im Vordergrund, wie die Gletschermumie und die dazugehörigen Überreste so lange Zeit überdauern konnten. Der österreichische Archäologe Konrad Spindler lieferte die ursprüngliche Erklärung dafür. Seiner Ansicht nach war Ötzi im Herbst mit beschädigter Ausrüstung auf den Pass geflohen und dann in der schneefreien Schlucht, in der seine Überreste gefunden wurden, erfroren. Der Körper und die dazugehörigen Überreste wurden danach schnell von Eis bedeckt und ruhten später unter einem sich bewegenden Gletscher, bis die Fundstücke im Jahr 1991 wieder freigelegt wurden.

Die Konservierung von Ötzi wurde außerdem als Beweis für eine plötzliche Abkühlung des Klimas um die Zeit von dessen Tod gesehen. 31 Jahre nach dem Fund kommen Fischer und ihre internationalen Kolleginnen und Kollegen nun aber zu neuen Schlussfolgerungen, was die Todesumstände und die klimatischen Veränderungen betrifft. Die ursprüngliche Erklärung von Spindler und die Annahmen über den damaligen Klimawandel halten demnach dem Test der Zeit nicht stand.

Der Oberkörper Ötzis, so wie er am 19. September 1991 am Tiesenjoch aus dem Eis ragte.
Helmut Simon/ Erika Simon
Der Oberkörper von Ötzi, wie er am 19. September 1991 am Tisenjoch aus dem Eis ragte

Nicht an Fundstelle erfroren

Die wichtigsten Erkenntnisse aus der neuen Studie: Ötzi starb im Frühling oder Sommer auf Schnee und Eis – und nicht, wie bisher angenommen, in einer schneefreien Schlucht im Herbst. Nach einiger Zeit seien Schnee und Eis geschmolzen und der Körper und ein Großteil seiner Habseligkeiten in jene darunterliegende Rinne gerutscht, wo man ihn schließlich entdeckt hat. „Er ist also nicht dort gestorben, wo er gefunden wurde, sondern wahrscheinlich einige Meter darüber“, so Fischer.

Ötzi und seine Artefakte wurden in den 1.500 Jahren nach seinem Tod außerdem immer wieder durch Schmelzprozesse freigelegt. „Bisher hat man vermutet, dass Ötzi im Herbst oder Winter gestorben ist und dann sofort unter Schnee und Eis dauerhaft begraben wurde. Das scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein. Im Lauf der Jahre ist er wahrscheinlich immer wieder einmal kurz an die Oberfläche gekommen“, erklärt die Gletscherforscherin. Laut Fischer gibt es keine eindeutigen Beweise für eine plötzliche und drastische Abkühlung des Klimas zum Zeitpunkt von Ötzis Tod.

Dass die Gletschermumie dennoch so gut erhalten ist, liegt laut der Glaziologin vermutlich daran, dass sie immer nur kurz an der Oberfläche war und danach schnell wieder unter dem Schnee und Eis verschwunden ist. „Wenn Ötzi nicht vor 31 Jahren gefunden worden wäre, hätte es wahrscheinlich zehn bis zwanzig Jahre gedauert, bis er wieder an die Oberfläche gekommen wäre“, so Fischer.

Doch kein Kampf?

An den Werkzeugen und Artefakten, die in den letzten dreißig Jahren in der Nähe von Ötzi gefunden wurden, gab es auch einige Schäden. Lange wurde vermutet, dass diese von einem Konflikt oder Kampf herrühren. Die neuen Erkenntnisse legen aber nahe, dass die Schäden auch den Spuren auf anderen Artefakten ähneln, die ungefähr gleich alt sind, aber nichts mit Ötzi zu tun hatten. „Schnee wiegt pro Kubikmeter rund 300 Kilogramm, Eis sogar bis zu einer Tonne. Da wirken also enorm große Kräfte auf die Artefakte, die unter dem Eis begraben sind“, so Fischer. Das bedeutet, die Schäden sind wahrscheinlich auf natürliche Prozesse an der Fundstelle zurückzuführen und nicht auf einen Konflikt.

Ötzis Köcher mit Pfeilen, wie sie 1991 gefunden wurden.
Gernot Patzelt
Ötzis Köcher mit Pfeilen, wie sie 1991 gefunden wurden

Weitere Funde wahrscheinlich

Die Chancen für die Erhaltung und den Fund weiterer Eismumien könnten aufbauend auf den neuen Erkenntnissen sogar noch besser sein als bisher angenommen – schließlich sind für die Erhaltung von Eismumien keine Naturkatastrophen, wie eine plötzliche Abkühlung des Klimas, erforderlich.

Laut Fischer werden die kommenden Jahre daher sehr spannend. Das älteste Eis in Österreich ist laut der Gletscherforscherin rund 6.000 Jahre alt – sehr viel ältere Eismumien als den 5.300 Jahre alten Ötzi wird es daher wohl nicht geben. Falls aber tatsächlich noch weitere und ähnlich alte Mumien unter dem Eis begraben sind, deuten die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Eisschmelze der umliegenden Gletscher darauf hin, dass diese in den kommenden Jahren an die Eisoberfläche kommen. „Für die Wissenschaft wird das sicher eine extrem spannende Zeit“, meint Fischer.

Das Zurückkommen der Gletscher

Von großer wissenschaftlicher Bedeutung seien die Untersuchungen rund um Ötzi vor allem auch für die Klimaforschung. „Zur Zeit um Ötzis Tod waren die Alpengletscher wahrscheinlich größtenteils eisfrei – die Temperaturen waren ähnlich wie heute. Danach hat sich das Klima – wenn auch nicht so plötzlich wie bisher vermutet – abgekühlt und die Gletscher haben sich regeneriert“, erklärt Fischer.

Wie schnell die Gletscher zurückkommen konnten, wie sich das Klima damals im Detail verändert hat und welche anderen Folgen mit dem damaligen Klimawandel einhergingen, ist laut der Glaziologin daher auch für ein besseres Verständnis der aktuellen von Menschen verursachten Klimaerwärmung von Bedeutung.