Künstlerische Darstellung: menschliches Gehirn mit Computerchips
Prostock-studio – stock.adobe.co
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Gehirnströme

Neuroprothese mit großem Wortschatz

Komplett gelähmte Menschen können nicht sprechen. Ein Computer, der die Hirnströme ihrer Gedanken in Worte übersetzen könnte, wäre für sie ein großer Fortschritt. So eine Neuroprothese haben nun US-Fachleute entwickelt. Der Wortschatz übertrifft bisherige Versuche – sie erkannte über 1.000 Worte.

Neuroprothesen übersetzen Nervensignale direkt aus dem Gehirn, etwa um Handprothesen zu steuern. Mit der Kraft der Gedanken lässt sich aber auch ein Cursor über den Bildschirm bewegen oder ein Rollstuhl durch den Raum manövrieren. In Zukunft sollen die Schnittstellen zudem gelähmten Menschen helfen, wieder direkt mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Denn bei vielen Betroffenen ist die Sprachfähigkeit an sich völlig intakt, etwa bei ALS– oder Locked-in-Patienten oder Patientinnen.

Seit Jahren wird daher intensiv an Schnittstellen geforscht, die die gedachte Sprache „verstehen“ sollen. Dabei ist es unter anderem bereits gelungen, simple Gespräche zwischen zwei Personen zumindest in vielen Fällen zu übersetzen. Gemacht werden solche Experimente meist mit Epilepsiepatienten und -patientinnen, die aufgrund ihrer Erkrankung Elektroden im Gehirn haben. Die Aktivität bestimmter Nervenzellen lässt sich dort direkt auslesen. Auch nicht invasive Methoden, etwa mittels Elektroenzephalografie (EEG), werden mittlerweile getestet.

Elektroden im Gehirn

Andere Studien arbeiten direkt mit Betroffenen, so wie die soeben im Fachmagazin „Nature Communications“ erschienene Arbeit des Teams um Edward Chang von der University of California, San Francisco: Proband war ein 36 Jahre alter Patient, der nach einem schweren Schlaganfall fast komplett gelähmt ist und nicht mehr sprechen kann. Nur mit Hilfe von kleinen Kopfbewegungen bedient er eine computerassistierte Schnittstelle.

Für die Experimente wurde dem jungen, kognitiv nicht beeinträchtigten Mann ein scheckkartengroßes Implantat mit 128 Elektroden eingesetzt. Von ersten Erfolgen haben die Forscherinnen und Forscher schon vergangenes Jahr im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ berichtet. Das damals verwendete Programm wurde in fast 50 Trainingseinheiten mit Hilfe von „Deep Learning“ trainiert, während der Patient versuchte, eines von 50 vorgegebenen Wörtern zu artikulieren.

Neben den maschinellen Lernmethoden aus der künstlichen Intelligenz wurden auch klassischen natürlichsprachliche Modelle verwendet, die zum Beispiel Wahrscheinlichkeiten für das Auftauchen von Wörtern in einem bestimmten Zusammenhang angeben. Auf diese Weise lernte das Programm tatsächlich, die Hirnströme in Sprache umzuwandeln. Am Ende gelang es sogar, ganze Sätze aus dem eingeschränkten Wortschatz zu erkennen. Die Fehlerquote lag allerdings bei einem Viertel.

Gedanklich sprechen

Der für die aktuelle Studie getestete Ansatz sollte nicht nur treffsicherer und umfassender, sondern auch direkter sein. Das bedeutet, der Proband musste nicht mehr mental versuchen, tatsächlich – nämlich auch physisch – zu sprechen, sondern konnte direkt das Wort bzw. den Buchstaben denken. Das mache den Vorgang weniger unnatürlich und daher vielleicht etwas alltagstauglicher für Betroffene, schreiben Chang und Co.

Durch einen Umweg über die Motorik das Gehirn lesbarer zu machen, versuchen übrigens auch andere Forschungsgruppen, etwa in der Form von „Mindwriting“ – als rein vorgestelltes mit der Hand Schreiben, wie ein Team erst vergangenes Jahr berichtete. Wie die neue Arbeit nun nahelegt, ist es für den Computer vielleicht gar nicht so wichtig, ob das Gehirn die Wörter motorisch oder mental produziert.

Wenige Buchstaben, viele Wörter

Changs Team fand außerdem einen recht einfachen Trick, um den Wortschatz der Neuroprothese ohne viel Aufwand zu vergrößern. Anstatt die kompletten Wörter zu denken, musste der Proband sie dieses Mal buchstabieren. Denn so ließe sich mit nur 26 Buchstaben eine viele größere Menge an Worten abbilden, betonen die Studienautoren und -autorinnen. Damit die Maschine die Buchstaben besser „versteht“, wurde die internationale Buchstabiertafel verwendet („Alpha, Bravo, Charlie,…“). Für das Training und die Tests wurden erneut künstliche Intelligenz und klassische Modelle der Sprachverarbeitung kombiniert.

Tatsächlich gelang es dem Computer in den allermeisten Fällen, die durch die Buchstabenmethode generierten mentalen Sätze aus einem Basisvokabular von 1.152 Wörtern zu erkennen. Die Fehlerquote pro Zeichen lag im Durchschnitt bei etwas mehr als sechs Prozent, pro Minute konnten fast 30 Buchstaben verarbeitet werden. Für die alltägliche Kommunikation wäre schon dieses Vokabular sehr hilfreich. Simulationsrechnungen der Forscher und Forscherinnen zeigen, dass sich der Wortschatz ohne große Verluste vergrößern ließe, auf bis zu 9.000 Wörter. Die durchschnittliche Fehlerquote läge auch dann nur bei etwas mehr als acht Prozent.