Menschen auf dem Weg zur Arbeit in der Früh in London
AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS
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Demografie

Wie sich Europas Bevölkerung entwickelt

Rund acht Milliarden Menschen leben aktuell auf der Erde. Bis Ende des Jahrhunderts werden es laut UNO etwa zehn Milliarden sein. In Europa verläuft die Entwicklung nach neuesten Prognosen anders. Hier stagniert die Gesamtbevölkerung, es gibt aber große Unterschiede zwischen Ländern – und eine Reihe von schwer vorherzusagenden Faktoren.

Ob am Dienstag tatsächlich die Acht-Milliarden-Menschen-Marke überschritten wird, ist fraglich. Die UNO hat den 15. November jedenfalls zum Symboltag für die Entwicklung der Weltbevölkerung auserkoren. Sieben Milliarden lebten 2011, es hat also nur elf Jahre für die „nächste Milliarde“ gedauert.

Das berichtet die UNO im soeben erschienenen Weltbevölkerungsbericht 2022. Laut den Prognosen werden 2030 rund 8,5 Mrd. Menschen die Erde bevölkern, 2050 werden es 9,7 Mrd. sein, und der Höhepunkt wird 2080 erreicht werden. Die Zahl von dann 10,4 Milliarden Menschen soll bis Ende des Jahrhunderts gleich leiben.

Großteil des Wachstums in Asien und Afrika

Die Bevölkerungsentwicklung sei kein Anlass zur Sorge, meinte die Chefin des UNO-Bevölkerungsfonds, Natalia Kanem. Sie sei eine „Kombination aus längerer Lebenserwartung, weniger Mütter- und Kindersterblichkeit und immer effektiveren Gesundheitssystemen“.

Die Weltbevölkerung wächst vor allem außerhalb Europas: Ein Großteil des Wachstums bis 2050 konzentriert sich auf lediglich acht Länder: Indien, Pakistan, die Philippinen, die Demokratische Republik Kongo, Ägypten, Äthiopien, Nigeria und Tansania. Die Bevölkerung in China hingegen, lange Spitzenreiter beim Bevölkerungswachstum, wächst seit Beginn der – mittlerweile wieder aufgegebenen – Einkindpolitik weniger stark. Schon im nächsten Jahr soll Indien China als bevölkerungsreichstes Land ablösen.

Und Europa? Durch den Fokus auf die Weltregionen mit dem stärksten Bevölkerungswachstum wirkt es oftmals so, als würde sich in Europa kaum etwas ändern. Ein falscher Eindruck, denn die Bevölkerungsentwicklung in Europa unterscheidet sich drastisch nach Ländern – und nach Regionen.

Während die europäische Bevölkerung von 1960 bis 2022 laut Eurostat von 355 Millionen auf 447 Millionen Menschen wuchs, soll sie bis 2100 leicht sinken. Die Gesamtsumme aller Menschen in Europa bleibt laut UNO-Vorhersagen dennoch relativ stabil. Für deren Modelle werden die nationalen Zensus der verschiedenen Länder verarbeitet. Die Zukunftsvorhersagen berücksichtigen dabei Migration, Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebenserwartung und verschiedene weitere Faktoren.

Besonders auffällig ist die vorhergesagte Entwicklung in Luxemburg, Norwegen und Irland – mit einem Bevölkerungsplus von um die 20 Prozent bis 2050. In diesen Ländern wird besonders deutlich, wie diese Faktoren zusammenwirken. So hatte Irland in den letzten Jahren gleichzeitig mehr Geburten als Todesfälle, eine steigende Lebenserwartung durch bessere Gesundheitsversorgung und mehr Zu- als Abwandernde. Österreich liegt mit einem prognostizierten Bevölkerungsplus von 0,4 Prozent bis 2050 in der Mitte der Rangliste.

Migration und Gesundheitsversorgung

Migration wird in Zukunft in vielen Ländern stark darüber entscheiden, ob ihre Bevölkerung wächst oder schrumpft. Denn die Geburtenrate in Europa ändert sich nicht mehr sehr stark. In wohlhabenden Ländern mit gutem Bildungszugang für Frauen bekommen diese meist weniger Kinder. Dieser weltweite Trend gilt als relativ stabil.

Aber die Kombination bedeutet beispielsweise: In Schweden mit seiner recht hohen Zahl an Immigration müssten Frauen im Schnitt 1,2 Kinder bekommen, damit die Bevölkerung gleich groß bleibt. In Rumänien und Bulgarien müsste sie drei Kinder bekommen, damit sie nicht schrumpft.

Auch die steigende Lebenserwartung macht einen großen Unterschied: Sie soll dank moderner Medizin und gesünderer Ernährung in der EU bis 2100 um durchschnittlich 5,1 Jahre steigen. Das bedeutet allerdings auch, dass bis 2100 weniger als zwei Menschen im erwerbstätigen Alter auf einen Menschen in Pension kommen.

Unklarheiten in den Prognosen

Diese Berechnungen zeigen aber auch, wie viele unklare Annahmen hinter solchen Modellen stecken. Deutschlands Bevölkerungszahl etwa würde laut UNO-Prognosen fast unverändert bleiben. Würde sich allerdings das Gesundheitssystem wesentlich verschlechtern und weniger Einwanderung erlaubt, würde die Bevölkerung stark schrumpfen.

Noch weniger klar ist die Frage, wie viele Menschen auswandern. Gerade zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz beispielsweise herrscht eine große Konkurrenz um gut ausgebildete Einwandernde. Die Bevölkerungsdichte spielt ebenfalls eine Rolle. Dünn besiedelte Länder wie Schweden, Irland und Norwegen haben mehr Möglichkeiten, neue Grundstücke zum Bauen freizugeben, als beispielsweise Österreich und Italien.

In den europäischen Ländern, die nach der Bevölkerungsprognose besonders viel Bevölkerung verlieren werden, ist fast durchgängig starke Abwanderung der treibende Faktor. Bulgarien, Litauen und Lettland könnten dadurch laut den Berechnungen bis 2050 um die 25 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren.

Wanderung vom Land in die Stadt

Diese Perspektive auf Ländergrenzen verdeckt allerdings eine vielerorts weitaus stärkere Dynamik als die Migration über Ländergrenzen. Ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung der letzten zehn Jahre in Europa zeigt: Die größte Wanderung in Europa geschieht vom Land in die Stadt.

Die Bevölkerung etwa des Ballungsraums Wien wuchs laut Eurostat von 2011 bis 2021 um 300.000 Menschen – auf rund 2,9 Millionen (Stadt plus Umland). Die Wachstumsrate von elf Prozent zählt mit Oslo, Zürich und Dublin zu den höchsten Europas. Von den für die Grafik ausgewählten Städten hatte nur Athen ein Minus zu verzeichnen.

Die Dynamik der letzten zehn Jahre wird sich voraussichtlich fortsetzen. Schon 2018 lebten laut UNO mehr als 75 Prozent der Europäerinnen und Europäer in urbanen Gebieten. 2040 sollen es bereits 80 Prozent sein, 2050 dann 85 Prozent. Besonders stark wird die Wachstumsrate der Städte voraussichtlich in den ärmeren europäischen Ländern sein, so der World Cities Report, in West- und Nordeuropa hingegen schreitet das urbane Wachstum nur noch langsam voran.

Quelle EICJA

Die Grafiken kommen aus dem europäischen Rechercheverbund EICJA, in dem Medien aus verschiedenen Ländern Europas gemeinsam urbane Herausforderungen des 21. Jahrhunderts recherchieren.

Im weltweiten Vergleich wachsen die Städte in Europa trotzdem sehr langsam. Und sie werden aller Voraussicht nach auch nicht so groß. Denn sie sind schon dicht besiedelt, Denkmalschutz hält die Häuser niedrig, und die Menschen sind schon seit Jahrzehnten in die Städte abgewandert. Um sich im Vergleich die Geschwindigkeit der Verstädterung in anderen Ländern vorzustellen: Zu Beginn 2014 lebte noch weniger als die Hälfte der Menschheit in Städten, 2050 sollen es zwei Drittel sein – bei dann neun Milliarden Menschen.