Der Philosoph Luca Maria Scarantino bei dem Vortrag an der ÖAW
ÖAW – Hinterramskogler
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Philosophie

Geburtsschmerzen einer postnationalen Welt

Spätestens der Angriff Russlands gegen die Ukraine hat gezeigt: Die Idee einer friedlichen, postnationalen Welt ist noch fern. Dennoch bewegen wir uns in diese Richtung, ist der Philosoph Luca Maria Scarantino überzeugt. Manche Nationen leiden aber noch an den Geburtsschmerzen dieser Welt – dem begonnenen Bedeutungsverlust.

Der Philosophie komme bei diesem Übergang eine wichtige Rolle zu – aber nur dann, wenn sie sich als interkulturelle versteht, die Sichtweisen aus verschiedenen Kulturen und Gesellschaften zusammen und in Dialog bringt. Das meinte Luca Maria Scarantino, der Donnerstagabend an der Akademie der Wissenschaften in Wien die Leibniz-Lecture gehalten hat, im science.ORF.at-Interview. Der italienische Philosoph ist Präsident der Internationalen Vereinigung von Philosophiegesellschaften (FISP), der Vortrag stand unter der Schirmherrschaft der Österreichischen UNESCO-Kommission.

science.ORF.at: Herr Scarantino, rechnet man die Mitglieder der hunderten FISP-Gesellschaften zusammen, repräsentieren sie viele tausend Philosophen und Philosophinnen in aller Welt. Sind Sie somit der wichtigste lebende Philosoph?

Luca Maria Scarantino: (lacht) Nein, ich glaube auch nicht, dass es so etwas gibt. Philosophen hassen die Idee solcher Hierarchien, bei mir ist das jedenfalls so. FISP spielt aber eine bedeutende Rolle für die Philosophie, indem sie Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringt, nicht nur aus dem Norden der Halbkugel. Als ich 2008 FISP-Generalsekretär wurde, stammten 60 oder 70 Prozent der Mitglieder aus Europa. Heute sind es weniger als 30 Prozent – und zwar nicht, weil wir weniger Mitglieder aus Europa haben, sondern weil es zu einem wirklich globalen Gremium geworden ist. Das ist genau, was die Philosophie braucht: Menschen aus verschiedenen Kulturen und Traditionen zusammenbringen.

Bei der Leibniz-Lecture der ÖAW haben Sie über „Philosophie in einer postnationalen Welt“ gesprochen. Wenn ich an Russlands Krieg ein paar hundert Kilometer östlich denke, scheint mir eine postnationale Welt noch fern zu sein …

Scarantino: Wir sind noch nicht vollständig angekommen, aber ich denke wirklich, dass wir uns schnell auf eine postnationale Welt zubewegen. Ich denke, der Krieg ist ein spektakuläres und tragisches Beispiel dafür, wie sich eine Nation – Russland – weigert, seinen Platz in einer Welt zu verlieren, die keine mehr für Nationen ist. Ich halte das für ein Zeichen einer historischen Verzweiflung Russlands. Generell denke ich, dass wir in Richtung einer multipolaren Welt gehen – mit mehreren „Imperien“, wie es mit einem Modewort heißt, oder Zivilisationszuständen. Wir haben heute solche Pole, einer ist der Westen mit den USA als Zentrum und Satellitenländern wie den unsrigen, dann gibt es China und aufstrebende Pole wie Indien. Ich denke, dass wir auf eine Welt zusteuern, in der diese Pole oder Imperien zusammenarbeiten werden müssen. Die Probleme unserer Zeit erfordern Kooperation und dafür gibt es auch schon Anzeichen. An einen „Kampf der Kulturen“ glaube ich überhaupt nicht, viel eher an Koexistenz dieser Imperien. Ist das gut oder schlecht? Ich weiß es nicht. Wir neigen dazu, Imperialismus zu hassen. Ich bin mir nicht sicher, ob eine imperiale Regierung schlimmer ist als eine nationalistische und koloniale. Vielleicht liegt es an meiner lateinischen Herkunft, dass ich dafür eine gewisse Nostalgie habe (lacht).

Der Philosoph Luca Maria Scarantino bei dem Vortrag an der ÖAW
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Russland möchte da auch mitmischen, das zeigt die Ideologie hinter dem Krieg – auf den Punkt gebracht von dem Philosophen Alexander Dugin. Da wird viel über die russische Seele und den russischen Geist erzählt, die gegen den teuflischen und dekadenten Westen kämpfen müssen.

Scarantino: Ich sage nicht, dass wir keinen Nationalismus haben, sondern dass er verschwinden oder besiegt werden wird. Wir hatten viel Nationalismus in den 1920er- und 30er-Jahren, und das lief nicht gut. Ich denke, dass die russische Aggression und dieser Hypernationalismus, der übrigens in vielen Teilen Europas verbreitet ist, bereits eine Art Reaktion ist auf den Bedeutungsverlust, den europäische Staaten in einer Welt erlitten, in der sie sich immer als Herrscher betrachtet haben. Es mangelt der europäischen Kultur und Philosophie, wenn man so will, an Bescheidenheit. Wenn diese Haltung, die ein Produkt der Geschichte ist, mit dem Bewusstwerden von Unterordnung kollidiert, kommt es natürlich zu Reaktionen. Das zeigt sich nicht nur bei manchen Intellektuellen, sondern auch im Aufstieg populistischer Bewegungen, im Aufstieg der extremen Rechten und den Schwierigkeiten der linken Parteien in ganz Europa, weil sie auch ratlos sind.

Ich denke, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder gehen wir in Richtung einer interkulturellen Welt, in der wir mit Menschen aus allen Teilen der Welt zu tun haben und uns mit ihnen austauschen. Oder wir reagieren identitär und schließen uns ein. Tun wir letzteres, führt das direkt ins Mittelalter – samt Ausgrenzung und Armut. Mario Draghi, der ehemalige Premierminister Italiens, sagte vor ein paar Jahren, bevor er Premierminister wurde, dass wir unseren Kindern nicht die Möglichkeit vorenthalten sollten, frei zu wählen. Ich halte das für einen wesentlichen Punkt. Aber wie schaffen wir es, dass unsere Kinder weiter frei wählen dürfen? Ich glaube nur, wenn wir sie in einer kosmopolitischen Welt leben lassen. Das ist nicht leicht und auch sozial diskriminierend, weil nicht jeder und jede dazu in der Lage sein wird. Aber ich sehe keine anderen Möglichkeiten.

Was spricht gegen die identitäre Mittelalteroption, also Mauern bauen und Abstand halten von den anderen …?

Scarantino: Wenn man Mauern um sich herum baut, ist es nicht so, dass andere nicht hereinkommen – sondern dass man selbst nicht mehr hinausgeht. Das ist der Punkt. Denn die Menschen würden einfach woanders hingehen, die Welt ist weit und offen – viel offener als früher. Wir sollten unseren Kindern deshalb nicht beibringen, Mauern zu bauen. Mauern bauen führt zu einer Art Knechtschaft – zu Menschen, die wissen, dass sie nicht mehr relevant sind. Und nicht relevant sein, ist eine Definition von Sklaverei. Okay, Sie können vielleicht ein schönes Auto haben, einen guten Job oder Haustiere in einem schönen Zuhause – aber sie können nichts mehr frei wählen. Und das ist genau wie im Mittelalter. Ich denke, das ist das Risiko, um das wir uns kümmern sollten, bevor es zu spät ist.

Haben Sie ein Rezept dagegen?

Scarantino: Nein, aber ich würde zwei Ebenen unterscheiden. Die erste ist individuell: Diejenigen, die sich das leisten können, können ihre Kinder auf der ganzen Welt studieren lassen – ein paar Jahre in Amerika, ein paar in Singapur, ein paar wo auch immer. Dann werden sie zu kosmopolitischen Individuen. Die zweite Ebene ist gesellschaftlich. Wir könnten versuchen, unsere Gesellschaft besser in diese neue Welt integrieren, d.h. den nationalistischen Ansatz zu überwinden. Das wäre auch eine bedeutsame Aufgabe für Philosophen und Philosophinnen. Denn es gibt kaum konsistente Lehren gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. Natürlich gibt es die katholische Kirche, der Papst hat viel dagegen getan. Aber was ist mit den Säkularen, was ist mit der traditionellen Linken? Deren Ideen funktionieren nicht mehr. Ich halte es deshalb für eine der Aufgaben der Philosophie von heute, eine neue politische Doktrin zu erschaffen, die diese Welt erklärt.

Der Philosoph Luca Maria Scarantino bei dem Vortrag an der ÖAW
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Die Philosophen und Philosophinnen sollen es also richten?

Scarantino: Ich denke nicht, dass sie herrschen sollten, so wie Platon das vorgeschlagen hat. Und Philosophie allein kann die Welt natürlich nicht retten – und hat in der Geschichte auch immer wieder Schaden angerichtet. Aber sie kann heute eine Rolle spielen bei der Ausarbeitung eines interkulturellen Denkens. Interkulturelle Philosophie ist heute ein Muss. Man kann nichts Sinnvolles mehr tun, wenn man sich nur innerhalb einer einzigen Tradition bewegt. Nehmen wir z.B. den Begriff des Imperiums – eine wichtige Idee der politischen Philosophie im Westen, die aber auch ein Grundkonzept des politischen Denkens in China ist. Beide Ideen unterscheiden sich aber komplett. Wenn man heute etwas Sinnvolles über imperiale Macht sagen will, muss man diese unterschiedlichen Ansichten kennen und berücksichtigen.

Das gleiche gilt für die Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen – etwa von Freundschaft. Freundschaft spielt in der griechischen Philosophie eine wichtige Rolle, aber ebenso in der chinesischen. Wenn Sie also wirklich eine Philosophie haben wollen, die alle anspricht, müssen Sie die unterschiedlichen Ansichten berücksichtigen. Die europäische Kultur ist in vielen Hauptstädten entstanden – in Rom, Paris, London, Wien usw. Heute prägt die ganze Welt die Kultur – neben Europa auch New York, Seoul, Tokio, Kapstadt, Peking usw. Wir müssen viel mehr wissen als früher und dabei auch etwas opfern: Wir können nicht mehr alles wissen über jeden einzelnen europäischen Philosophen, aber keine Ahnung haben von Wang Yangming oder Muhammad Iqbal. Viele Studierende kennen sie bis heute nicht, und das muss sich ändern. Die Philosophie heute muss sich öffnen und so interkulturell wie möglich sein.

Ist sie dann noch Philosophie, die ja im antiken Griechenland erfunden wurde?

Scarantino: Das ist eine umstrittene Frage, die bis auf die Anfänge der Philosophie zurückgeht. Diogenes Laertius schrieb in seinem klassischen Text über das Leben der Philosophen gleich zu Beginn, dass es Leute gibt, die behaupten, dass die Philosophie in Ägypten, im Nahen Osten oder gar in Persien erfunden worden wäre – und macht sich darüber lustig. Jeder wisse schließlich, dass nicht nur die Philosophie, sondern die ganze Menschheit in Griechenland geboren wurde. Aus heutiger Sicht ist das natürlich lächerlich. Wir wissen mittlerweile, dass es jede Menge Austausch gegeben hat zwischen den Ländern des Mittelmeers, des Nahen Osten, Afrikas und Asiens – bis zu 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Die Ursprünge der Philosophie sind also viel verschwommener, als wir früher dachten.

Und die philosophische Natur anderer Traditionen ist nicht zu leugnen. Weil ich ja hier bei der Leibniz-Lecture eingeladen bin: Als Leibniz die ersten Schriften über chinesische Philosophie erhielt, stürzte er sich darauf – dabei war der Zugang zu chinesischen Werken extrem begrenzt. Hätte er mehr gehabt, hätte er sie wahrscheinlich genauso gut studiert wie die Scholastik. Heute ist es für die Philosophie ein Muss, die verschiedenen Traditionen zu erlernen – und das wird im akademischen Bereich auch immer mehr zum Standard.

Die westliche Philosophie wird nicht zuletzt von der westlichen Philosophie kritisiert. Der Postkolonialismus etwa moniert verkürzt gesagt, dass viele Gedanken zwar gut klingen, aber von der tatsächlichen Kolonialgeschichte kontaminiert sind – und wollen sie dann gleich verwerfen …

Scarantino: Viele Konzepte sind kontaminiert, das ist unbestreitbar. Ebenso dass die westliche Philosophie ein Element des Ausschlusses hat. Aber es gibt keinen Grund, sie wegzuwerfen. Vielmehr gilt es, den Kanon der Philosophie zu diskutieren und zu revidieren. Also: Ja, die westliche Kultur hat ihre Fehler, aber das haben alle Kulturen und alle Traditionen. Die westliche hat zudem ein Merkmal, das äußerst wertvoll ist, nämlich die Fähigkeit zur Selbstkritik: die Idee, dass man alles in der Öffentlichkeit diskutieren, kritisieren und zum Gegenstand von Spott machen kann – einschließlich der eigenen Tradition und Kultur.