Logo der FTX-Kryptobörse samt illustriertem Kursverlauf
AFP – STEFANI REYNOLDS
AFP – STEFANI REYNOLDS
Effektiver Altruismus

Börsencrash erschüttert auch gehypte Ethik

Mit dem Crash der Kryptobörse FTX ist auch eine ethische Denkschule ins Schleudern geraten, die in den vergangenen Jahren zunehmend in Mode gekommen ist: der Effektive Altruismus, der auf den optimalen Einsatz von Mitteln setzt, um Menschen zu helfen. Kritiker sehen darin eher ein Wohlfühldusche für Milliardäre, die Probleme wie die Klimakrise vernachlässigt.

Die Kryptobörse FTX ist seit rund zwei Wochen offiziell insolvent, deren Gründer und Chef Sam Bankman-Fried zurückgetreten. Vieles ist noch unklar und wird Wirtschaftspolitik und Gerichte noch eine Weile in Trab halten. Sicher ist das Faible, dass Bankman-Fried für den Effektiven Altruismus hat. Am Massachusetts Institute of Technology in Boston, wo er vor rund zehn Jahren Mathematik und Physik studierte, war er auf William MacAskill gestoßen, einem schottischen Philosophen und Mitbegründer dieser ethischen Position.

Ihr zufolge sollen die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld so wirkungsvoll wie möglich eingesetzt werden, um das Leben möglichst vieler anderer zu verbessern. Eine der logischen Konsequenzen daraus sei es, möglichst viel Geld zu verdienen, um dieses dann für eine gute Sache zu spenden. Eine Krankenschwester, die ihr Leben der Pflege anderer verschrieben hat, ist in diesem Sinn weniger „gut“ als ein Börsenmakler – wenn er einen bestimmten Teil seines Verdiensts der Wohlfahrt spendet.

“Earning-To-Give“ in der Praxis

Bankman-Fried war von diesem “Earning-To-Give-Ansatz“ angetan und kurzzeitig Entwicklungsdirektor des Centre for Effective Altruism, einer im britischen Oxford ansässigen Wohltätigkeitsorganisation, die u. a. von MacAskill initiiert wurde und die Gemeinschaft des Effektiven Altruismus aufbaut. 2019 gründete Bankman-Fried die Kryptobörse FTX, über die u. a. mit Kryptowährungen wie Bitcoin und Ether gehandelt werden kann. Sie wuchs rasant und soll zum Höhepunkt rund 30 Milliarden US-Dollar wert gewesen sein.

Das öffentliche Image von Bankman-Fried als „Super-Philanthrop“, der persönlich bescheiden lebte, zog zahlreiche Investoren an, darunter viele Prominente. Er wurde in Rekordgeschwindigkeit schwerreich, der „Guardian“ schätzt sein persönliches Vermögen auf 16 Mrd. US-Dollar. Der Verdacht steht nun im Raum, dass Bankman-Fried im großen Stil Gelder veruntreut – und nicht 99 Prozent seines Reichtums gespendet hat, wie er noch im Mai gegenüber einem Ausschuss des US-Kongresses angab.

Bankman-Fried bei einem Vortrag
APA/AFP/Getty Images/Craig Barritt
Krypto-Philanthrop Bankman-Fried

Damit gerät auch die Idee des Effektiven Altruismus in Bedrängnis. MacAskill hat sich zwar so wie viele andere Vertreterinnen und Vertreter der Denkschule bereits öffentlich von Bankman-Fried distanziert – und twitterte, dass „Earning-to-Give Betrug niemals rechtfertige“. Kritiker halten aber nicht persönliche Verfehlungen einzelner Personen für das Problem, sondern die Grundsätze der ethischen Position: Der Aufruf, möglichst viel zu verdienen, um möglichst viel zu spenden, richtet sich in erster Linie an Menschen, die schon privilegiert und vermögend sind. An grundlegender Ungleichheit etwas zu ändern, ist ihnen kaum gelegen. Steuern etwa versuchen sie zu vermeiden wie ganz „normale Milliardäre“, etwa auf der Steueroase Bahamas, wo FTX nicht nur beheimatet ist, sondern auch hunderte Millionen echte Dollar für Immobilien ausgab.

Longtermism: Zukunft wichtiger als Gegenwart

Zudem suchen sich die edlen Spender (und weil seltener privilegiert: seltener Spenderinnen) selbst aus, was die drängendsten Probleme sind, die es anzupacken gilt. Der utilitaristisch-rationalistische Ansatz nimmt für sich in Anspruch, dass es so etwas wie eine Prioritätensetzung gibt. Wie MacAskill etwa bei einem Ted-Talk 2018 ausführte stehen globale Gesundheit, die Tierhaltung in der industriellen Landwirtschaft und „existenzielle Risiken“ für die Menschheit ganz oben auf der Liste der zu bewältigenden Probleme.

Mit letzterem sind etwa Nuklearkriege gemeint, die seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wieder denkmöglich sind, aber auch eine Reihe anderer Phänomene. In der Szene der Effektiven Altruisten in den vergangenen Jahren ist dabei der Blick in die Zukunft immer beliebter geworden: Nicht Klimakrise, soziale Ungleichheit oder Armut sollten vorrangig bekämpft werden, sondern zukünftige Entwicklungen, die heute schon begonnen haben – etwa die Möglichkeit, dass eine Künstliche Intelligenz und Roboter eines Tages die Weltherrschaft übernehmen.

William MacAskill bei einem Vortrag
www.williammacaskill.com
William MacAskill bei einem Vortrag

Für die radikalen Vertreter dieser Idee ist die Zukunft wichtiger als die Gegenwart, nicht zuletzt, weil sie davon ausgehen, dass in der fernen Zukunft sehr viel mehr Menschen leben werden und diese im Sinne der utilitaristischen Nutzenmaximierung vorrangig sind. Im Fachjargon ist die Idee als Longtermism bekannt. „Ein weitestgehend ungebremster Klimawandel wäre zweifelsfrei dramatisch, laut den Longtermisten aber nicht existenzbedrohend für die Menschheit als solches und damit nur eine vergleichsweise kurze düstere Episode in der Millionen Jahre langen Erfolgsgeschichte“, schrieb das Philosophie-Magazin im Vorjahr.

Präventivschläge gegen Staaten, Totalüberwachung

Mit ihrer Zukunftsfixierung gehen eine Reihe von Problemen einher: Der schwedische Philosoph Nick Bostrom etwa, der schon vor zehn Jahren gegenüber science.ORF.at vor einer Superintelligenz warnte, die Büroklammern herstellen könnte, reizte in einem Artikel mögliche Gegenmaßnahmen aus. Sollte ein Staat Technologien entwickeln, deren Einsatz die Zerstörung der Menschheit bedeuten würden, so wäre ein Präventivschlag gegen diesen Staat ethisch gerechtfertigt, schrieb Bostrom. In einem anderen Artikel ging er den Pros und Contras der Idee nach, die Menschen komplett und weltweit zu überwachen – natürlich auch nur um „existenzielle Risiken“ abzuwehren.

Auch wenn solche Maßnahmen nur als letzte Wahl beschrieben werden, seien Ethiken, bei denen der Zweck die Mittel heilige, gefährlich – und Rechtfertigung für zukünftige Grausamkeiten, kritisiert etwa der Philosoph Emile Torres. „Alles, was noch fehlt, ist eine Situation, in der solche extremen Handlungen nötig erscheinen, um unsere posthumane Zukunft zu schützen, und jemand, der diese Vorschläge ernstnimmt,“ schreibt er in der Online-Zeitschrift „Salon“.

SpaceX-Gründer Elon Musk 2016 bei einem Weltraumkongress in Mexiko, bei dem er seine Besiedlungspläne des Mars vorstellte
AP – Refugio Ruiz
SpaceX-Gründer Elon Musk 2016 bei einem Weltraumkongress in Mexiko, bei dem er seine Besiedlungspläne des Mars vorstellte

Elon Musk ist ein Fan

Der Longtermism nimmt eine Art kosmische Perspektive ein und verbindet Dystopien der Erde mit utopischen Vorstellungen der Menschheit – Transhumanismus, also technisch irgendwie verbesserte Menschen, und eine Kolonialisierung des Weltraums inklusive. Wenig verwunderlich zieht das Techno-Utopisten wie Elon Musk an. Das jüngste Buch von MacAskill “What we owe the future“ hält er für eine „gute Entsprechung“ seiner eigenen Philosophie, wie der potenzielle Mars-Besiedler vor einigen Monaten twitterte.

Der schottische Philosoph führt in dem Buch aus, warum die Langzeitzukunft des Menschen die oberste moralische Priorität der Gegenwart sei – und betont einmal mehr, dass die Wahl des Berufs die wichtigste im Leben sei, auch in ethischer Hinsicht. Die 80.000 Stunden, die wir im Schnitt eines (US-amerikanischen) Berufslebens arbeiten, sollen gut gewählt sein – und da gibt die von MacAskill mitgegründete Nonprofit-Organisation “80.000 Hours“ Ratschläge. Bei Sam Bankman-Fried, dem Gründer der Kryptobörse FTX, haben diese Ratschläge nicht zum gewünschten Erfolg geführt, wie es scheint.