Athleten-Parade am 1. Oktober 1955 am Tiananmen-Platz in Beijing zu Ehren Mao-Tse-Tungs
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Sinologie

Wie die Geschichte Chinas Gegenwart prägt

Taiwan ist ein unveräußerlicher Teil Chinas, so das Mantra der Ein-China-Politik. Dass sich China über ein unteilbares Territorium definiert, hat eine lange Tradition. Sie beginnt spätestens im 13. Jahrhundert unter den Mongolen – genau in der Zeit dieser Fremdherrschaft war China erstmals reales Zentrum eines Weltreichs. Wie sich die relativ kurze Episode bis heute auswirkt, erklärt die Sinologin Sabine Hinrichs im ORF-Interview.

Im Vergleich zu den USA, dem Mitbewerber in Sachen Weltmacht Nummer Eins, hat China einen großen historischen Vorsprung. Die ersten schriftlichen Zeugnisse der chinesischen Kultur reichen rund 3.000 Jahre zurück. Als die Mongolen unter Kublai Khan die Macht übernahmen, konnte man schon auf über 2.000 Jahre Geschichte zurückblicken. Das traditionelle Selbstverständnis: China sei Tianxia, also „alles, was unter dem Himmel liegt“, eine Art naturgegebene, unvergängliche Einheit und Zentrum der Welt. Im Zentrum des Zentrums stand der chinesische Kaiser, als „Sohn des Himmels“ oberster Vertreter von Politik und Religion.

Erstmals Zentrum eines Weltreichs

Die konkrete Ausdehnung von China könne sich zwar ändern, nicht aber dessen Wesen. Ausgerechnet unter den Mongolen Ende des 13. Jahrhunderts war China Teil des größten zusammenhängenden Herrschaftsbereichs der Weltgeschichte. Die (aus Sicht Chinas) „nomadischen Barbaren aus dem Norden“ drangen nach Europa und bis ins heutige Österreich vor, sie einten Nord- und Süd- China und machten Beijing erstmals zur Hauptstadt eines geeinten China. „Vor der Mongolenherrschaft hat sich China nach dem Tianxia-Prinzip zwar für das Zentrum der Welt gehalten. Aber nun war man Zentrum eines tatsächlichen Weltreichs“, erklärt die Sinologin Sabine Hinrichs von der Universität Wien und aktuell Junior Fellow am IFK in Wien.

Veranstaltung

Sabine Hinrichs hält am 28.11., 18.15 Uhr, den Vortrag „China als Großmacht. Es begann mit den Mongolen“, er findet am Internationalen
Forschungszentrum
Kulturwissenschaften |
Kunstuniversität Linz in Wien in hybrider Form statt.

Die mongolische Episode dauerte nur kurz, von 1271 bis 1368, schrieb sich unter dem Titel der Yuan-Dynastie aber in die dynastische Geschichte Chinas ein. Relevant wurde sie erst wieder im 19. Jahrhundert, als China unter einer weiteren Fremdherrschaft einen Niedergang erlebte – wobei „fremd“ eine Zuschreibung aus Sicht der han-chinesischen Mehrheit ist. Die mandschurischen Kaiser (Qing-Dynastie ab 1644) zwangen den Han-Chinesen nicht nur ihre Stammestracht auf – den Zopf -, sondern vergrößerten anfangs auch das Reichsgebiet. Im 19. Jahrhundert hatten sie den aggressiven Imperialmächten aus dem Westen aber wenig entgegenzusetzen. Die Opiumkriege gegen das britische Empire gingen verloren, das sinozentrische Weltbild geriet ins Wanken – zumal mit Japan ein unmittelbarer Nachbar die Vormachtstellung in Ostasien beanspruchte.

Es geht alles vorüber …

„Der Mandschu-Herrschaft wurde stark vorgeworfen, dass sie nicht verhindert hat, dass sich der Westen und später auch Japan Chinas bemächtigen konnten“, sagt Sabine Hinrichs. Das unterschlägt zwar eine Reihe von innerchinesischen Problemen, die es im 18. Jahrhundert auch ohne Einmischung der Imperialmächte gegeben hätte – enormes Bevölkerungswachstum, interne Migration, wirtschaftlicher Niedergang –, doch könne man damit die „Zeiten der han-chinesischen Dynastien glorifizieren“. Beim Untergang des Kaiserreichs im 20. Jahrhundert erinnerten manche Geschichtsschreiber auch an die Mongolen-Herrschaft, so Hinrichs, nach dem Motto: Die chinesische Kultur hat das zuvor überlebt, warum soll ihr das nicht noch einmal gelingen?

„Die Kommunistische Partei Chinas nutzt dieses Narrativ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie hat gesagt: unter unserer Führung wird es China in Zukunft wieder besser gehen, und sie betont das bis heute“, erklärt die Sinologin. Aber noch in einem anderen, und vielleicht wichtigeren Aspekt wirkt die mongolische Episode bis heute nach. „Die Mongolen haben ihre Macht mit der Ausdehnung des Reichs politisch legitimiert, weil sie sonst nicht viele Möglichkeiten hatten, sich in die Reihe der chinesischen Kaiserhäuser einzureihen.“

Tiananmen-Platz in Beijing
AFP – NOEL CELIS

“Territorium“ als Identitätsgrundlage

Damit wurde „das Territorium“ zentral für die chinesische Identität – auch in der nachfolgenden Ming-Dynastie, wenngleich deren Gebiet deutlich kleiner war. Die Ming-Dynastie versuchte dieses kleinere Gebiet aber als Übernahme der mongolischen Yuan-Dynastie darzustellen, was de facto nicht der Fall war. „Und das ist auch einer der Gründe, warum man so besessen darauf ist, das Territorium, das man hat, zu behalten. Im frühen 20. Jahrhundert, nach dem Ende der dynastischen Ordnung, hat die Republik China versucht, all das Territorium zu übernehmen, was der letzten Dynastie angehörte.“ Mit Ausnahme der Äußeren Mongolei, aus der sich der heutige Staat Mongolei entwickelte, ist das auch gelungen. Andere Provinzen wie Tibet scheiterten mit ihren Unabhängigkeitsbestrebungen. „Es war unglaublich wichtig für die politische Führung der Republik und später der Volksrepublik, diese Territorien als eine Grundlage ihrer eigenen Legitimation zu übernehmen“, sagt Hinrichs.

Die Betonung auf „das Territorium“, so sehr es sich praktisch in der Geschichte auch geändert hat, ist bis heute zentral. „Deshalb versucht sich China etwa im Streit um Inseln im Südchinesischen Meer darauf zu berufen, dass man als erstes einen Fuß auf sie gesetzt hat und sie somit Teil Chinas sind. Das wird schonmal anhand von historischen Karten legitimiert, die teilweise wenig überzeugend sind.“ Dennoch wolle China von dieser Linie nicht abweichen. Befürchtet wird ein Dominoeffekt, der letztlich auch die größte aller Streitfragen betreffen könnte – Taiwan.

Grafik von China und Taiwan
Grafik: APA/ORF.at

Unterschlagen historischer Prozesse

„Die Inseln nutzt man zur Erweiterung der eigenen Interessenssphäre. Wenn man aber bei dem, was die politische Führung als integralen Bestandteil der Volksrepublik betrachtet, klein beigäbe, dann ist vielleicht Taiwan irgendwann auch mal de facto unabhängig. Dann wird Tibet vielleicht unabhängig, und kann man ausschließen, dass sich vielleicht Xinjiang und die Innere Mongolei ablösen? Das ist die Gefahr, die der Volksrepublik und der Kommunistischen Partei immer vor Augen steht.“ Als abschreckendes Beispiel gelte der Zerfall der Sowjetunion als politischer und multiethnischer Einheit. Um ein ähnliches Schicksal zu verhindern und China als Zentrum Ostasiens zu erhalten, müsse Taiwan unter allen Umständen Teil der Volksrepublik bleiben – so die geschichtspolitische Logik der Machthaber.

Diese Logik baut aber auf einer in historischen Maßstäben noch jungen Idee auf – nämlich des Nationalstaats aus dem 20. Jahrhundert. In dieser Idee enthalten ist die Vorstellung von einem bestimmten gleichbleibenden Territorium, eine (nicht nur im Falle Chinas) offensichtlich ahistorische Position. Das Kernland Chinas in der Zeit der Han-Dynastie um 200 vor bis 200 nach unserer Zeitrechnung reichte zwar schon von Zentralasien bis Indochina und Japan – war aber deutlich kleiner als die heutige Volksrepublik und enthielt etwa weder die Mongolei noch Tibet. Wenn man das heutige China mit dem historischen gleichsetzt, unterschlage man historische Prozesse aus der Retrospektive, sagt Sabine Hinrichs – „und damit auch ganz viele Prozesse, die im Laufe der langen ‚chinesischen‘ Geschichte stattgefunden haben, von (gewaltvoller) Anbindung, von politischer und bürokratischer Ausdehnung über andere Gebiete und natürlich oft auch die Interessen dieser Gebiete selbst.“