Einbringung der Türkenbeute aus Ungarn nach Wien im Jänner 1594
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Wien als Zentrum des „Orientalismus“

Ein Buch kann vieles sein: Instrument des Selbst- und Welterkennens, Propagandawaffe, Sammelobjekt, aber auch Kriegstrophäe. Ein Forschungsprojekt der Uni Wien untersucht aktuell auf Türkisch, Arabisch und Persisch abgefasste Handschriften, auf die alle diese Bezeichnungen zutreffen. Die Sammlung aus dem 17. Jahrhundert gibt neue Einblicke in den ersten europäischen „Orientalismus“, dessen Zentrum Wien war.

Diese Handschriften, die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt werden, befanden sich einst im Besitz von Sebastian Tengnagel – Hofbibliothekar von 1608 bis 1636 und kaiserlicher Rat dreier Herrscher (Rudolf II., Matthias und Ferdinand II.). Ein Flachrelief sowie eine Grabinschrift an der Fassade des Stephansdoms in Wien erinnern an Tengnagel und seine Frau Ursula und rühmen dessen polyglotte Hochbegabung (Tengnagel beherrschte 15 Sprachen!).

Chiara Petrolini
IFK

Über die Autorin

Chiara Petrolini beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Religions- und Geistesgeschichte des frühneuzeitlichen Europas.

Derzeit ist Petrolini Research Fellow am Internationalen Zentrum für Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.

Der Hofbibliothekar (der nicht in Wien, sondern in den Niederlanden aufgewachsen war) gehörte als eine ihrer Galionsfiguren der sogenannten „arabischen Gelehrtenrepublik“ an. Das heißt, einer kleinen Gruppe von Gelehrten, die sich in der frühen europäischen Neuzeit – einem Zeitalter großer Instabilität, verheerender Konflikte und struktureller, religiöser, wirtschaftlicher und sozialer Krisen – mit beträchtlichem Erfolg neue und tragfähige Kenntnisse von der islamisierten Welt erlangten.

Tengnagels Sammlung

Ein an der Universität Wien angesiedeltes Forschungsprojekt hat es sich zum Ziel gesetzt, das außergewöhnliche Archiv an Briefen sowie Tengnagels Sammlung orientalischer Bücher erstmals systematisch zu erschließen und eingehend zu untersuchen, um das Bild des Bibliothekars genauer zu profilieren und damit ein neues, fruchtbares Forschungsfeld zu eröffnen.

Der vielleicht interessanteste – weil aller Intuition zuwiderlaufende – Aspekt dieser Forschungen ist jedoch die Verbindung von Erkenntnis und Gewalt, genauer: die greifbar werdende Korrelation zwischen dem Anwachsen der Kenntnisse bezüglich des Nahen Orients und den Kriegshandlungen an der ungarischen Front während des „Langen Türkenkriegs“.

Geschichten von Freundschaft und Hass

Die von Tengnagels orientalischen Handschriften durchlaufenen Bahnen (wie auch diejenigen anderer ihm zeitgenössischer oder nachfolgender Orientalisten) erzählen viele verschiedene Geschichten, mitunter von Freundschaft und Frieden, oftmals jedoch auch von Hass und Krieg. Ein beträchtlicher Teil von ihnen war Teil der sogenannten „Türkenbeute“, welche die christlichen Soldaten bei ihren Plünderungen in den Zelten der osmanischen Soldaten sowie den Moscheen und Bibliotheken der belagerten Städte und Dörfer eroberten.

Darunter befinden sich z. B. kleine tragbare Korane in Metallgehäusen, die die Soldaten während der Schlachten als Kriegsamulette um den Hals trugen. Oder auch während der Belagerung von Esztergom 1595 erbeutete Gedichtbände und Gebetbücher sowie ein großer zweibändiger Koran, der zunächst einem Soldaten (Paul), sodann einem österreichischen Baron (Job Hartmann von Enenkel) gehörte und schließlich von Tengnagel erworben wurde, da dieser der Einzige war, der die Schrift entziffern konnte. Nur er wurde daher gewahr, dass es sich hier um die heilige Schrift des Islams handeln musste.

Geschichten in den Randnotizen

Wir haben es hier durchweg mit Geschichten zu tun, die von den Rändern ausgehen, um sodann zunehmend ins Zentrum einer größtenteils noch zu untersuchenden intellektuellen Praxis zu rücken. Und „Ränder“ ist hier zuallererst in einem ganz wörtlichen Sinne zu verstehen: Nur dank der in den Manuskripten auffindbaren zahlreichen Randnoten und Marginalien können wir die Umläufe und spezifischen Bahnen all dieser Bücher rekonstruieren und Spuren von Sklaven und Soldaten, aber auch von protestantischen Baronen, Kardinälen, Rabbinern, Händlern und Missionaren isolieren, die zusammengenommen ein weitläufiges heterogenes Netzwerk ausspannen.

Auch Menschen waren Kriegsbeute

Als Kriegsbeute gelangten jedoch nicht nur Bücher (und etliche andere Gegenstände mehr) nach Wien, sondern auch Menschen, wie etwa der Dichter und Maler İbrāhīm Dervīş, der in Győr in Kriegsgefangenschaft gefallen war und sodann als Kopist für Tengnagel arbeitete. İbrāhīm schrieb dem Hofbibliothekar einen Brief auf Türkisch, in dem er diesen anflehte, ihn von vom „ewigen Schmerz“ seines Lebens als gefangener Sklave zu entbinden.

Einbringung der Türkenbeute aus Ungarn nach Wien im Jänner 1594
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Einbringung der „Türkenbeute“ aus Ungarn nach Wien im Jänner 1594

Tengnagel kommt seinerseits in seinen Briefwechseln des Öfteren auf den „türkisch-persischen Herrn“ zu sprechen und bittet Kaiser Matthias um zusätzlichen Lohn, damit er den Schreiber in seinem Haus und unter seiner Gerichtsbarkeit unterhalten kann. Nur so könne dieser, wie Tengnagel hinzufügt, seiner diffizilen und heiklen Arbeit einer Abschrift der in Heidelberg und Leiden entliehenen kostbaren Handschriften nachkommen. Es handelt sich um seltene und umso wertvollere Zeugnisse, die den Bund eines katholischen Humanisten und eines in Sklavendienst gefallenen Moslems dokumentieren.

Widersprüchlicher Charakter

Die Geschichte İbrāhīms, aber ebenso die zahlreichen, mitunter äußerst unscheinbaren Spuren in den Handschriften sind Fragmente, die es – geduldig zusammengefügt – erlauben, ein überraschend facettenreiches Profil Tengnagels nachzuzeichnen: Die Jesuiten von Ingolstadt betrachten ihn als einen ihrer Mitstreiter, und doch war der Katholik Tengnagel ein enger Freund protestantischer Gelehrter. Der Rabbiner von Wien Ma’or Katan hatte ihn einen „Freund Israels“ genannt, und doch war er in mindestens zwei Vorfälle antijüdischer Zensur verstrickt.

Der überaus fromme Ferdinand II. hatte ihn zum kaiserlichen Rat berufen, und doch besaß Tengnagel neben 14 unterschiedlichen Ausgaben des Koran eine Handschrift, in welcher der Islam als rationale Religion gepriesen wurde. Die Liste der scheinbaren Widersprüche ließe sich beinahe beliebig fortsetzen.

Neue Einblicke in ersten europäischen „Orientalismus“

Diese Dokumente erlauben es jedoch auch und vor allem, die Geschichte des ersten europäischen „Orientalismus“ neu zu schreiben. Über lange Zeit hinweg als ein exemplarisches Beispiel reiner Geistesgeschichte dargestellt, deren treibende Kräfte einsame, Pionierarbeit leistende europäische Gelehrte gewesen seien, haben wir es in Wirklichkeit mit einem sehr viel subtiler und komplexer, mitunter auch überaus verworrenen Gewebe zu tun, welches vielfältig und bunt, aber auch nachtschwarz ist.

Es handelt sich um eine Geschichte von mannigfachen Gefahren, untergründigen und klandestinen Kontakten, unbegrenzter Neu- und Wissbegierde, von körperlicher wie kultureller Bewegung und Übertragung und von Gewalt.

Wien als umkämpftes Zentrum

Und es ist eine Geschichte, in der oftmals marginalisierte und nahezu unsichtbare Gruppen von Menschen, die wir gemeinhin nicht als Teil der „Republica literaria“ ansehen, eine entscheidende Rolle spielen: Reisende, Abenteurer, Missionare, Dragomane, Konvertiten, Sammler, Händler, aber auch Sklaven oder Kriegsgefangene von den Grenzen des Osmanischen Reiches und den entlegenen Ufern des Mittelemeeres.

Militärische Konflikte und Spannungen zu Friedenszeiten, Wahrheit und Propaganda, Kollisionen von Macht und Glauben, konfessionelle Polarisierung und philologische Methoden, Krise des Christentums und neue globale Perspektiven – aus diesen Elementen entstand der erste Orientalismus. Und wenn man einen Ort des 17. Jahrhunderts angeben sollte, an dem diese verwickelte Textur ans Licht tritt, so kann das nur das vielsprachige, multikonfessionelle und allseits umkämpfte Wien sein.