Ein Wolf heult
ORF Vorarlberg
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Literatur

Wie der Wolf zu seinem schlechten Image kam

Weihnachten ist traditionell auch die Zeit der Märchen, in denen viele nichts Weiteres als harmlose Kindergeschichten sehen. Tatsächlich prägen sie aber das kollektive Gedächtnis bis heute. Der Wolf erhielt etwa aufgrund der „Rotkäppchen“-Erzählung einen schlechten Ruf – und der spiegelt sich aktuell in den hochemotionalen Debatten zwischen Schutz und Abschuss wider.

Ende September dieses Jahres brannten in Tirol und Kärnten rund 600 Lagerfeuer, Kerzen und Laternen. Sozusagen ein Mahnfeuer, um europaweit auf die nach Ansicht der Organisatoren verfehlte Politik Europas in Sachen Wölfe aufmerksam zu machen. Initiiert hatten die Aktion Jäger und Jägerinnen, Bauernbund-Ortsgruppen sowie der Verein „Save the Alps“.

Sendungshinweis

Universum „Geheimnisvolles Tschechien – Ein Land wie im Märchen“: Di., 20.12., 20.15 Uhr, ORF1.

Diese Gruppe betrachtet Wölfe als Bedrohung für die Landwirtschaft und die ländliche Bevölkerung. Vor allem in Kärnten und Osttirol fand diese Initiative Zustimmung: Mitte November wurde die erste Wölfin gemäß der Kärntner Wolfsverordnung im Gailtal erlegt. Diese erlaubt zumindest vorübergehend den Abschuss der geschützten Tiere, auch wenn diese Regelung gegen das EU-Recht verstößt. Naturschutzorganisationen wie etwa der WWF kündigen daher eine rechtliche Prüfung an.

Vorschau auf „Universum“

Diesmal widmet sich „Universum“ den geheimnisvollen Seiten Tschechiens.

Gefährlich oder schützenswert?

Offiziellen Zahlen zufolge konnten heuer 50 Wölfe nachgewiesen werden. Diese Zahl ergibt sich aus den unterschiedlichen genetischen Proben der gerissenen Tiere und der Anzahl der Tiere aus den sechs Wolfsrudeln in Österreich. Insgesamt wurden bis zum Sommer knapp 500 Schafe und Ziegen sowie ein Rind von Wölfen gerissen.

Laut Tierschützern und Tierschützerinnen sei das aber noch lange kein Grund zur Besorgnis, im Gegenteil: Tatsächlich habe Österreich EU-weit die geringste Besiedlungsdichte mit Wölfen. Sie zeigen sich empört über die Abschussverordnung für Wölfe in Kärnten und fordern weiterhin den strengen Schutz des Wildtieres. Tierschutz Austria lobbyierte im Sommer im Sinne des Wolfes und wies auf eine Studie hin, laut der sich das Raubtier hauptsächlich von Wild ernährt und Nutztiere nur zu einem Prozent auf seinem Speisezettel stehen. Auf Facebook postete Tierschutz Austria Ergebnisse der Studie mit folgendem Text: „Der große böse Wolf: Er hat es auf die drei Schweinchen, die sieben Geißlein, Rotkäppchens Großmutter und heute auf die Weidetiere unserer LandwirtInnen abgesehen. So das landläufige Image des Wolfes.“

Zwei Wölfe beschnüffeln sich
Eric Dufour/Mostphotos

Die Märchen, in denen der Wolf als Prototyp des Bösen herhalten muss, haben sich tatsächlich tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Doch ist tatsächlich nur das öffentliche Bild des Wolfes ein so schlechtes? Und wie ist es überhaupt entstanden? Mit dieser Frage haben sich inzwischen zahlreiche Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen beschäftigt – und sie warten mit erstaunlichen Forschungsergebnissen auf.

Symbol für den Trieb

Schon antike Mythen bedienen sich des Wolfes als symbolträchtige Figur, jedoch war sie damals noch weitaus positiver besetzt: Romulus und Remus, die sagenhaften Gründerväter der italienischen Hauptstadt, wurden etwa von einer Wölfin gerettet und gesäugt – bei den Römern ein heiliges Tier, das oft Kraft symbolisierte.

Tiere eignen sich in Erzählungen hervorragend für Prototypen, wie die Literaturwissenschaftlerin Heidi Lexe von der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur Wien erklärt: „Der einzelne Mensch steht immer für ein Individuum mit seinen Charaktereigenschaften. Märchen erzählen sich leichter mit holzschnittartigen Stereotypen, und hier eignen sich Tiere gut: Sie können mit unterschiedlichen Vorstellungsbildern aufgeladen werden. So kann man sie einerseits spiegelbildlich für menschliche Eigenschaften sehen, die aber andererseits in ihrem animalischen Charakter belassen werden.“ Und so haben sich die bekanntesten Tierstereotype herausgebildet: der schlaue, wendige Fuchs, die weise Eule, die alles überblickt, und eben der böse Wolf, der seinen wilden Trieb ungezügelt auslebt.

Der Wolf steht sinnbildlich also schon lange vor den Märchen der Gebrüder Grimm als das Wilde, ungezügelte im Menschen, vor allem im Mann. In seiner äußersten Form verdichtet sich dieses Thema sogar bis hin zum Werwolf. Das „Rotkäppchen“-Märchen, in diesem Kontext gelesen, erhält sogleich eine weitere Bedeutungsebene, erklärt Lexe: „Er nimmt hier nicht nur eine prototypische Form an, sie ist auch stark aufgeladen. Der Wolf verschlingt das Rotkäppchen, das tut er wortwörtlich, also gibt es hier einen kannibalistischen Anteil. Er tut das aber auch im übertragenen Sinn, indem die Geschichte einen sehr stark sexualisierten Anteil hat.“

Ein Wolf trinkt in einem Fluss
Getty Images/500px/Peter Hendriks

Rotkäppchen als moralische Aufklärungserzählung?

Lexe verweist auf die „Rotkäppchen“-Version in der ebenso berühmten Märchensammlung des französischen Hofbeamten Charles Perrault. Er lebte ein Jahrhundert vor dem berühmten Brüderpaar Jacob und Wilhelm Grimm, das einige Märchen aus dem Werk Perraults übernommen und marginal verändert hatte. In Perrauts Version fordert der Wolf das Rotkäppchen sogar direkt dazu auf, sich seines Kleidchens zu entledigen und sich zu ihm ins Bett zu legen. Das rote Käppchen deuten Fachleute übrigens sinnbildlich für die erste Menstruation. Das Märchen kann also als frühes Aufklärungsstück für pubertierende Mädchen gelesen werden, als Warnung vor der ungezügelten männlichen Lust – für die symbolisch der böse Wolf verantwortlich gemacht wird.

Kann der Wolf das böse Image loswerden?

Volkserzählungen lassen sich leicht verfremden und persiflieren, da sie im kollektiven Gedächtnis verankert sind und Ursprungsversion und Themen bekannt sind. Daher kann auch das Rotkäppchen mit der Zeit gehen. „Es gibt in der modernen Kinder- und Jugendliteratur unzählige Versionen, in denen das Rotkäppchen den Wolf durch die Geschichte prügelt. Auch hier macht die Emanzipation nicht halt“, so die Literaturwissenschaftlerin Lexe.

Was den Wolf anbelangt, so würde jedoch das schlechte Image oft den Blick auf eine sachliche Debatte vernebeln, meint Tierschutz Austria und betitelt sogar eine Presseaussendung mit: „Märchenverbreitung zum Wolf muss aufhören“. Die Debatte über den Wolf wird schließlich auch im neuen Jahr hitzig weitergehen. Das EU-Parlament hat im November den Schutzstatus des Wolfes geschwächt, was Tierschutzorganisationen auf dem gesamten Kontinent wieder auf den Plan rufen wird.