Klimaaktivisten der Organisation „Letzte Generation“ haben am Dienstag, 10. Jänner 2023, eine Zufahrt zum Verteilerkreis am Praterstern blockiert.
APA/GEORG HOCHMUTH
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Klimaproteste

Zwischen Wissenschaft und Aktivismus

Wissenschaft im Elfenbeinturm, die sich nicht um die Welt „da draußen“ kümmert: Das war vielleicht einmal. Speziell bei den aktuellen Klimaprotesten engagieren sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – so auch Dienstagfrüh bei der Verkehrsblockade auf dem Wiener Praterstern. Die Grenzen zwischen objektiver Wissenschaft und persönlichem Aktivismus werden zunehmend unscharf.

Auf den Punkt gebracht hat es Greta Thunberg schon 2019: „Ich möchte nicht, dass Sie mir zuhören. Ich möchte, dass Sie der Wissenschaft zuhören“, sagte die Galionsfigur der Klimabewegung damals vor dem US-Kongress. Dieses „Listen to the science“ bezog sie auf den ein Jahr zuvor erschienenen Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) zu den Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad.

Neue Protestformen, die viele nerven

Schon diese wären für den Planeten und seine Bewohner und Bewohnerinnen äußerst ungemütlich – erst recht die 2,8 Grad plus, die aktuell nach den versprochenen Maßnahmen der Politik vorhergesagt werden. Dass die Klimakrise durch menschliches Wirtschaften verursacht wurde, darüber besteht in der Klimawissenschaft Konsens, die IPCC-Prognosen sammeln das Wissen von Tausenden Expertinnen und Experten weltweit.

Diesem Wissen stehen relativ wenige Veränderungen in Politik und Wirtschaft gegenüber: So sehen es zumindest Teile der Klimaschutzbewegung. Sie sind in den vergangenen Monaten deshalb zu neuen Protestformen übergegangen, wie das Anschütten von Gemälden und Verkehrsblockaden durch Ankleben. Laut Umfragen nervt das die Mehrheit der Bevölkerung – außerdem wird diskutiert, ob das den Anliegen der Protestierenden nicht schadet.

Letzte Generation: Solidarität aus Wissenschaft

Auch am Dienstag haben Aktivisten und Aktivistinnen der Letzten Generation wieder Straßen in Wien blockiert. Auf dem Praterstern haben sich diesmal Wissenschafterinnen und Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen mit den Demonstranten und Demonstrantinnen öffentlich solidarisiert.

Keine „Tiktokisierung“ der Klimabewegung

Fakt ist: Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligen sich an den Protesten – nach anfänglichem Zögern. „Ich war auch skeptisch und habe das anfangs als Tiktokisierung der Klimabewegung kritisiert“, sagte etwa der Politologe Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der BOKU Wien, am Dienstag bei der Verkehrsblockade am Wiener Praterstern – Mitglieder der Letzten Generation hatten zuvor den größten Kreisverkehr Österreichs vorübergehend in eine Fußgängerzone verwandelt.

„Ich habe aber feststellen müssen, dass diese Aktivisten mit ganz simplen Aktionen eine Bereicherung für den öffentlichen Diskurs sind“, so Steurer. Sich selbst auf die Straße zu kleben, ist ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Er solidarisiere sich aber „mit dem zivilen Widerstand, auch wenn er lästig ist“, und zwar gemeinsam mit rund 50 anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – darunter auch Österreichs „Klimadoyenne“ Helga Kromp-Kolb und Franz Essl, Biodiversitätsforscher und frischgebackener „Wissenschaftler des Jahres“.

Um Aufmerksamkeit für die Folgen der Klimaerwärmung zu erzeugen, hält Essl auch „polarisierende Aktionen wie Straßenblockaden oder Proteste in Museen“ für notwendig und legitim, wie er in einem „Standard“-Interview sagte. „Jede Störung, die dadurch verursacht wird, ist absolut vernachlässigbar im Vergleich zu den Folgen der Klimakrise.“ Ob sich dieser Aktivismus oder doch wissenschaftliche Politikberatung letztlich als politisch und gesellschaftlich wirksamer erweisen, sei heute schwer zu sagen.

Jemand hat sich mit der Hand an die Fahrbahn geklebt.
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Klimaaktivisten der Letzten Generation haben sich angeklebt

Internationale Bewegung

Die Grenzen zwischen objektiver Wissenschaft und subjektivem Engagement sind jedenfalls unscharf. Das zeigen auch viele internationale Beispiele. Besonders spektakulär: Anfang April 2022 kettete sich der Klimaforscher Peter Kalmus mit anderen an die Eingangstüren der US-Bank JP Morgan Chase in Los Angeles, weil das Geldhaus neue fossile Projekte finanziert. Die Verhaftung nahm er in Kauf. „Ich hasse es, die Kassandra zu sein, und wäre viel lieber mit meiner Familie und würde Wissenschaft betreiben“, schrieb der „verzweifelte Vater“ danach im „Guardian“. „Aber ich fühle mich moralisch verpflichtet, die Alarmklingel zu drücken.“

Die Bewegung in der Wissenschaft, die sich dem zivilen Widerstand verschrieben hat, ist mittlerweile global. Im deutschen Sprachraum unterstützten schon 2019 über 25.000 Forscherinnen und Forscher Greta Thurnbergs „Fridays for Future“-Schulbewegung und erschafften das Label „Scientists for Future“. Mit jedem IPCC-Bericht scheint der Aktivismusgrad zu steigen – und es gibt Stimmen, die das Erstellen von weiteren Berichten in Frage stellt, da die wesentlichen Punkte ohnehin längst bekannt seien.

Mahnende Stimmen

Wo bleibt da die Neutralität und Objektivität, eines der obersten Gesetze der Wissenschaft? Um die wird innerhalb und außerhalb ihres Systems heftig gestritten, die Beteiligten geraten dabei immer öfter – und wie schon zuvor in der Coronavirus-Pandemie – in die Schusslinie von Politik und Öffentlichkeit. Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn rät dabei generell zu Vorsicht. „Ökologisches Engagement ist wichtig, aber als Wissenschaftler haben wir vor allem die Aufgabe der Erkenntnisgewinnung“, sagte der Direktor des Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie in Jena vor Kurzem in einem Interview. „Wir sollten der Gesellschaft dabei keine fixen Rezepte verschreiben, sondern auf der Grundlage unserer Erkenntnisse Handlungsoptionen aufzeigen.“

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich aktivistisch engagieren, sollten klar kommunizieren, welchen Hut sie gerade tragen – dazu rät Sabine Süsstrunk, Informatikerin an der EPFL Lausanne und aktuelle Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrates. „Wenn ich als Forscherin zu aktivistischen Mitteln greifen würde, dann müsste ich deutlich klarmachen, dass ich so etwas nicht als Präsidentin des Wissenschaftsrates mache, sondern als Privatperson“, sagte sie vor Kurzem in einem Interview mit der Schweizer „Medienwoche“. Man müsse solche Aktivitäten zurückstecken, sobald man eine offizielle Beratungsrolle übernimmt. „Da braucht es ein bisschen Gespür dafür, welche Rollen sich mit Aktivismus vereinbaren lassen und welche nicht.“

Klimaaktivisten der Organisation „Letzte Generation“ haben am Dienstag, 10. Jänner 2023, eine Zufahrt zum Verteilerkreis am Praterstern blockiert.
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Klimaaktivisten der Letzten Generation auf dem Wiener Praterstern

Auch historisch unscharfe Grenze

Historisch haltbar ist eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Aktivismus freilich nicht. Davon zeugen zahlreiche und sehr prominente Beispiele, die etwa der britische Ökonom Andrew Simms zusammentrug: Albert Einstein revolutionierte nicht nur die Physik, sondern kämpfte auch zeit seines Lebens gegen Rassismus und Atomwaffen. Charles Darwin erfand nicht nur die Evolutionstheorie, sondern arbeitete als Verfechter von Tierrechten auch an entsprechenden Gesetzen. Rachel Carson war nicht nur eine renommierte Zoologin, sondern gilt mit ihrem Kampf gegen den Einsatz von Pestiziden auch als eine der Gründerinnen der US-Umweltbewegung.

Ob die aktivistischen Forscherinnen und Forscher auch einmal in die Geschichtsbücher eingehen werden, wird die Zukunft zeigen. In dieser werden die Klimaproteste noch heftiger werden, vermutete der Politologe Reinhard Steurer bei der Verkehrsblockade auf dem Wiener Praterstern: „Man muss kein Hellseher sein, um zu sehen, dass sich der Klimanotstand weiter zuspitzen und politische Reaktionen darauf unangemessen bleiben werden. Solange das so ist, werden sämtliche Formen des Widerstands weiter zunehmen.“