Eine Frau im Rollstuhl mit Kaffeebecher in der Hand, im Hintergrund mehrere Frauen und Männer im Business-Look
Marcos – stock.adobe.com
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Verhaltensökonomie

Geschlecht spielt keine Rolle

Männer mögen Risiko und Wettbewerb, Frauen sind eher vorsichtig und altruistisch: Eine neue Studie aus der Verhaltensökonomie widerspricht diesen bekannten (Vor-)Urteilen. Das Besondere daran: Erstmals wurde in ökonomischen Experimenten das Verhalten einer größeren Anzahl von Frauen und Männern mit jenem von Transpersonen verglichen.

„Weder das biologische noch das soziale Geschlecht spielten eine Rolle für die Entscheidungen, die die Personen getroffen haben“, sagt die Studien-Erstautorin Helena Fornwagner gegenüber science.ORF.at. „Diese Ergebnisse haben auch uns anfangs überrascht“, so die Verhaltensökonomin, die lange an der Universität Innsbruck gearbeitet hat und mittlerweile an der University of Exeter tätig ist.

Die Überraschung lag daran, dass Geschlechterunterschiede in der ökonomischen Literatur gut dokumentiert sind. Frauen gelten darin tendenziell etwa als „risikoaverser“ – sie würden also sichere, niedrigere Gewinne gegenüber höheren, aber unsichereren bevorzugen. Auch würden sie stärker zu altruistischem und weniger zu wettbewerbsorientiertem Verhalten neigen als Männer, so der bisherige Tenor. Die neue, von Fornwagner und ihrem Team vor Kurzem in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ veröffentlichte Studie hält dem nun gute Argumente entgegen.

An echten Menschen lange nicht interessiert

Die Vorgeschichte: Traditionell haben sich die Wirtschaftswissenschaften um das Verhalten von echten Menschen wenig gekümmert. Ausgegangen wurde von Modellen eines „homo oeconomicus“, der auf Basis bestmöglicher Information rationale Entscheidungen im Eigeninteresse trifft. Erst die Verhaltensökonomik hat vor rund 30 Jahren begonnen, sich für real existierende Menschen zu interessieren. Wie diese zu ihren wirtschaftlichen Entscheidungen kommen, haben Forscherinnen und Forscher danach in zahlreichen Experimenten überprüft. Dabei wurde nicht nur gezeigt, dass ein „homo oeconomicus“ in freier Wildbahn kaum anzutreffen ist, sondern auch, dass sich das Verhalten von Frauen und Männern unterscheidet – nicht zuletzt auch im Rahmen einer Studie, an der Fornwagner selbst beteiligt war.

Es gibt kein geschlechtstypisches Verhalten …

„Der beobachtete Gender Gap hat viel mit der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Studien zu tun“, erklärt die Verhaltensökonomin. Klassisch handelt(e) es sich dabei um Studentinnen und Studenten – und diese würden sich oft anders verhalten als breitere Teile der Bevölkerung. Das zeigte sich auch in der aktuellen Studie von Fornwagner, in der sie mit ihrem Team der Frage nach den Geschlechterunterschieden auf eine neue Weise nachgegangen ist: Unter den 780, über die Plattform “Prolific“ rekrutierten Personen waren Studierende genauso wie andere Menschen. Und als Premiere in der Forschungslandschaft: Knapp die Hälfte waren Transfrauen und Transmänner – Menschen also, bei denen das biologische Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugeordnet wurde, nach Eigenangaben nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt.

Drei Dimensionen wirtschaftlichen Verhaltens überprüften die Fachleute in Online-Aufgaben: Risikofreude, Wettbewerbsorientierung und Altruismus. Und dabei zeigten sich zwischen den vier Gruppen – Cis-Frauen und Cis-Männer (bei denen also biologisches und soziales Geschlecht übereinstimmen), Trans-Frauen und Trans-Männer – keine signifikanten Unterschiede. Es gibt also, laut diesen neuen Erkenntnissen, kein „typisch weibliches“ oder „typisches männliches“ Verhalten in Wirtschaftsfragen.

… aber ein „studentisches“

Die Ergebnisse zeigen aber potenziell in Richtung von Geschlechterunterschieden – analog zur Literatur – bei den Studierenden. Warum gerade eine Gruppe, die diese Unterschiede stark thematisiert und oft kritisiert, zu ebensolchen neigt? Vielleicht genau deswegen, spekuliert Helena Fornwagner. „Das war zwar nicht Bestandteil unserer Studie. Aber vielleicht ist es so, dass Menschen, die oft an ihre Geschlechtsidentität denken und auch unterbewusst damit beschäftigt sind, eher in Richtung dieser Identität gelenkt sind – und das kann ihre Entscheidungen beeinflussen.“ In der Psychologie nennt sich das Phänomen Priming: die unbewusste Aktivierung von Gedächtnisinhalten, die die Neigung zu bestimmten Verhaltensweisen stärken können.

„Gender“ und „Sex“, wie es auf Englisch heißt, also Geschlechtsidentität und biologisches Geschlecht, spielen bei wirtschaftlichen Entscheidungen jedenfalls nicht die Rolle, die ihr bisher zugeschrieben wurden, so das Fazit der aktuellen Studie. Einerseits kann das an der Auswahl der Probanden und Probandinnen liegen. Andererseits könne auch der gesellschaftliche Wandel beigetragen haben – vor allem in den angloamerikanischen Ländern, aus denen die Mehrheit von ihnen stammte. „Transgender-Personen werden in der Gesellschaft zunehmend sichtbarer, es gibt viel mehr öffentliche Diskussionen über Geschlechtergerechtigkeit – all das könnte die Unterschiede bei wirtschaftlichen Entscheidungen verringert haben“, sagt Fornwagner.

Gleichberechtigung noch fern – auch in Sachen Betrug

Bleibt noch die Frage, warum das in der „Wirtschaftswelt da draußen“ zumeist noch anders aussieht. Beispiel: Finanzskandale und Trickbetrügereien. Blickt man zurück, so verursachten diese fast ausschließlich Männer, bei denen biologisches und soziales Geschlecht zusammenfallen (und die diesen Unterschied vermutlich auch gar nicht kennen oder kannten). Beginnend mit Charles Ponzi, dem Namensgeber eines bekannten Betrugssystems (Ponzi Scheme), über Bernard Madoff, Nick Leeson bis zu den Akteuren der Dieselgate-, Wirecard- und FTX-Skandale: Dabei handelte es sich stets um männliche Investmentbanker, Finanzhändler oder Manager – die stark zu Risiko neigen und wenig zu Altruismus.

Warum wir nicht viel häufiger auch von Frauen in Sachen Wirtschaftsbetrügereien lesen und hören? Nicht, weil sie dazu nicht prinzipiell genauso neigen können, meint die Verhaltensökonomin Fornwagner. „Es gibt bis jetzt schlicht viel weniger Frauen in den Führungsriegen der Wirtschaft, um solch unethisches Verhalten auszuleben.“ Wenn sich das ändern sollte, dann könnte es auch mehr Schlagzeilen zu Betrügerinnen geben, spekuliert die Forscherin. „Je mehr Frauen in Führungspositionen kommen, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch sie sich unethisch verhalten. Nur weil eine Person das eine oder das andere Geschlecht hat, schützt es noch lange nicht davor, leider auch sehr viel Schaden anzurichten.“