Szenenausschnitt aus dem Film „Die Hebamme – Auf Leben und Tod“, eine Frau hält ein Baby in ihrem Arm
ORF/SK Film/Christian Hartmann
ORF/SK Film/Christian Hartmann
Zeitgeschichte

Hebammen als NS-Täterinnen

Im Nationalsozialismus sind Hebammen an der Ermordung von Kindern mit Behinderung beteiligt gewesen. Eine davon war die Urgroßmutter der Filmemacherin Lena Ditte Nissen. In einem Gastbeitrag geht diese der Frage nach, wie man das Wissen um Täterschaft innerhalb der eigenen Familie aufarbeitet – und dabei über eine bloße Anklage oder Identifikation mit einer vermeintlichen Opferrolle hinausgeht.

Mit 14 Jahren erfuhr ich zum ersten Mal von der nationalsozialistischen Vergangenheit meiner Familie und war vor allem überfordert. Wir hatten im Geschichtsunterricht der neunten Klasse zwar das gesamte Jahr den Nationalsozialismus, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg behandelt, sprachen aber nie über die möglichen Verstrickungen unsere eigenen Verwandten.

Lena Ditte Nissen, ÖAW/IFK_Junior Fellow
IFK

Über die Autorin

Lena Ditte Nissen arbeitet als künstlerische Forscherin und Filmemacherin. Derzeit ist sie Research Fellow am Internationalen Zentrum für Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.

Vortrag

Lena Ditte Nissen hält am 23. Jänner 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Chaosmos des Persönlichen“, dieser findet hybrid statt.

In meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung gehe ich daher der Frage nach, wie ich am Beispiel meiner eigenen Familiengeschichte die emotionalen Affekte in der Auseinandersetzung mit Täter:innenschaft im Nationalsozialismus durch künstlerische Forschung sichtbar und erfahrbar machen kann. Mit welchen Methoden lassen sich innerfamiliäre Gefühlserbschaften, die dabei eine wichtige Rolle spielen, herausarbeiten? Und mit welchen künstlerischen Praktiken lassen sich diese Fragen und mögliche Antworten vermitteln?

Staatlichen Gewaltausübung in Privaträumen

Meine Urgroßmutter Nanna Conti (1881 – 1951) war als „Reichshebammenführerin“ die oberste Hebamme des Deutschen Reichs. Ihr Sohn Leonardo Conti (1900 – 1945) stieg bis zum „Reichsgesundheitsführer“ auf. Gemeinsam, als Arzt und Hebamme, waren sie im Rahmen ihrer politischen Positionen aktiv an der Planung und Umsetzung der Ermordung von kranken und behinderten Kindern beteiligt. Bereits ab 1934 waren Hebammen verpflichtet Neugeborene mit Fehlbildungen zu melden. Mit dem „Reichshebammengesetz“ von 1938 wurde die Position der Hebammen durch die „Hinzuziehungspflicht“ – die unbedingte Anwesenheit einer Hebamme bei jeder Geburt – weiter gestärkt.

Am 18. August 1939 erschien der als „STRENG VERTRAULICH!“ deklarierte Erlass des „Reichsministers des Inneren" mit dem Betreff „Meldepflicht für mißgestaltetete usw. Neugeborene“ in dem die Meldepflicht von Hebammen verschärft wurde: „(2) Ich ordne daher an, daß die Hebamme, die bei der Geburt eines Kindes Beistand geleistet hat – auch für den Fall, daß die Beiziehung eines Arztes zu der Entbindung erfolgte – eine Meldung an das für den Geburtsort des Kindes zuständige Gesundheitsamt (…) zu erstatten hat, falls das Neugeborene verdächtig ist, mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein (…). (4) Die Hebamme erhält für ihre Mühewaltung eine Entschädigung von 2 RM. (…)“

Den Hebammen kam in der Summe ihrer Aufgaben also die perfide Rolle der staatlichen Gewaltausübung in den privaten Räumen der Familien zu. Sie hatten qua ihrer Tätigkeit als Geburtshelferinnen Zugang zu Wohnräumen und daher ein besonders intimes Wissen über die Lebenssituationen und Familienmitglieder ihrer Klientinnen. Es ist also davon auszugehen, dass sich viele Hebammen der Tötung von Kindern mitschuldig gemacht haben. Eine genaue Zahl der Meldungen durch Hebammen kann leider nicht mehr nachvollzogen werden.

Propaganda oder Fachzeitschrift?

Reichshebammenführerin Nanna Conti nutzte die Zeitschrift der „Reichsfachschaft Deutscher Hebammen“ (ab 1939: „Die Deutsche Hebamme“), eigentlich eine Fachzeitschrift für Hebammen, als ihr propagandistisches Sprachrohr, um politischen Einfluss auf die ihr unterstellten Hebammen zu üben und sie damit in ihrer Wirkmächtigkeit als wichtige Arbeiterinnen für den Nationalsozialismus zu bestärken. In der Zeitschrift veröffentlichte sie unzählige Artikel, Kommentare und Rezensionen, die die nationalsozialistische Ideologie implizit oder explizit vermittelten.

Hebammenzeitschrift, Gastbeitrag Lena Ditte Nissen
Hebammenzeitschrift „Die deutsche Hebamme“
Aus der Zeitschrift „Die deutsche Hebamme“, April 1941

So schrieb sie beispielsweise im Grußwort zum Jahr 1934: „Eine besondere Aufgabe der Hebammen wird es sein, aufklärend in dem Kreise ihrer Pflegebefohlenen Fragen der Bevölkerungspolitik zu besprechen. Sie hat im Volke die Vertrauensstellung, die notwendig ist, um eine solche Besprechung von Mund zu Mund durchzuführen, eine Vertrauensstellung, um die Arzt und Fürsorgerin oft mühselig ringen müssen. Notwendig ist dazu, daß sie selbst mit heißem Herzen die Notwendigkeit aller bevölkerungspolitischen Maßnahmen anerkennt, die Notwendigkeit zahlenmäßig und wertmäßig genügenden Nachwuchses, die Ausmerzung minderwertiger oder verbrecherischer Erbmasse, die seelische, körperliche und geldliche Unterstützung der werdenden Mutter, die glaubt, ihre Mutterschaft nicht durchführen zu können (…)".

Kollektivgeschichte der Gegenwart

Es sind unter anderem Texte wie dieser, die ich in meiner Forschung eingehend untersuche. Im Rahmen von Gruppengesprächen mit Teilnehmenden unterschiedlichster Hintergründe und Wissensstände im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, setze ich mich radikal mit den Schriften meiner Urgroßmutter auseinander. Ich konfrontiere mich und meine Gesprächspartner*innen mit den teils drastischen Aussagen der Originaltexte und bitte sie expressiv und intuitiv darauf zu reagieren.

Die Mehrstimmigkeit, die sich aus dieser diskursiven kulturellen Praxis ergibt, spiegelt und ergänzt meine individuelle Interpretation und erlaubt es mir, über das Persönliche hinaus, künstlerisch-ästhetische Lösungen zu erarbeiten. Auf diese Weise versuche ich einerseits meine individuelle Familiengeschichte in die Kollektivgeschichte der Vergangenheit einzuordnen und sie andererseits mit ihren Nachklängen auch als Kollektivgeschichte der Gegenwart zu verstehen.