Ausschnitt der Fassade des Hauptgebäudes der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien
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Neues Zentrum für Antisemitismusforschung

Judensterne auf Anti-CoV-Demos, Vorstellungen von geheimen Welteliten und unverhältnismäßige Israel-Kritik: Antisemitismus verändert seine Gestalt, sein Inhalt bleibt aber der gleiche. Den Hass gegenüber Juden und Jüdinnen vor allem in der Gegenwart soll ein neues Exzellenzzentrum an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erforschen.

„Antisemitismus artikuliert sich heute anders als früher, weil Geschichte sich nie eins zu eins wiederholt, sondern sozusagen unterschiedliche Kostüme anzieht“, sagte ÖAW-Präsident Heinz Faßmann bei der Präsentation des neuen Forschungszentrums gegenüber science.ORF.at.

Kein historisches Phänomen

Anlass ist der morgige Holocaust-Gedenktag. Er erinnert an den 27. Jänner 1945, den Tag, an dem Soldaten der Roten Armee das NS-Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Sechs Millionen Juden und Jüdinnen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Antisemitismus ist aber alles andere als ein bloß historisches Phänomen, sondern nach wie vor verbreitet.

2020 ging eine Studie im Auftrag des Parlaments der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in Österreich nach. 28 Prozent der Befragten hielten die Aussage „Eine mächtige Elite (z. B. Soros, Rothschild, Zuckerberg …) nutzt die Corona-Pandemie, um ihren Reichtum und politischen Einfluss weiter auszubauen“ für sehr oder eher zutreffend. Heuer sollen aktuelle Zahlen dazu veröffentlicht werden. Die Akademie will sich an der Studie in Zukunft beteiligen und diese nötigenfalls selbst durchführen – alle zwei Jahre sollen dann Änderungen in den Einstellungen verglichen werden.

Bestandsaufnahme und Vernetzung

Die Teilnahme an der Studie ist einer von vier Schwerpunkten, denen sich das neue „Center of Excellence“ widmen soll. Allen voran steht eine Bestandsaufnahme: Unter Leitung der Zeithistorikerin Helga Embacher von der Universität Salzburg soll ein Überblick über den Stand der Antisemitismusforschung erarbeitet werden.

Vernetzung mit internationalen und nationalen Forschungseinrichtungen seien dabei zentral, sagt Faßmann: „Die Antisemitismusforschung in Österreich ist ausgesprochen fragmentiert. Wir haben beispielsweise das Wiesenthal-Institut, das ausgezeichnete Arbeit leistet – aber eine klare Holocaust-Orientierung hat. Dazu haben wir Einzelpersonen oft in Geschichte oder politikwissenschaftlichen Instituten, die sich des Antisemitismus annehmen. Aber wir haben keine zusammenhängende Erforschung des Gegenwartsantisemitismus.“ Dies zu ändern sei eines der Ziele des neuen Forschungszentrums, die ÖAW wolle eine Plattform des Austauschs und der Zusammenarbeit werden.

Vielzahl von Disziplinen

Das solle sich auch im wissenschaftlichen Beirat spiegeln, der noch im Aufbau begriffen ist. Die Vertreterinnen und Vertreter sollten aus einer Vielzahl von Disziplinen stammen, von Zeitgeschichte und Politikwissenschaft bis Judaistik und Islamwissenschaften – schließlich gibt es auch so etwas wie einen Antisemitismus mit Migrationshintergrund. Bei letzterem ist die Gretchenfrage immer die Einschätzung der Politik Israels. Bei der Frage, was Antisemitismus überhaupt ist, möchte sich die Akademie an die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance halten, so wie das auch die Bundesregierung macht.

“So etwas darf nie mehr passieren“

Die Akademie selbst hat ihre antisemitische Zeitgeschichte erst sehr spät aufgearbeitet. Erst im Vorjahr ist dort zum 175-Jahr-Jubiläum ein kritischer Geschichtsrückblick erschienen. Mitverantwortlich dafür war die ÖAW-Zeithistorikerin Heidemarie Uhl, die nun den neuen Forschungsschwerpunkt leiten soll.

Die ÖAW, so das unrühmliche Fazit der Vorjahrespublikation, sei 1938 zum Vorbild für andere Wissenschaftsakademien im „Altreich“ geworden: Bereits kurz nach dem „Anschluss“ wurden jüdische Mitglieder ausgeschlossen, die Akademie bekannte sich zum Führerprinzip. Das neue Zentrum für Antisemitismusforschung ist laut Präsident Faßmann letztlich „auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass man sagt: So etwas darf nie mehr passieren.“

Das Budget des neuen Forschungszentrums soll pro Jahr rund eine halbe Million Euro betragen. Bis zu vier wissenschaftliche Fachkräfte könnten damit beschäftigt werden. Dazu wurden bereits im Vorjahr Fellowhips ausgeschrieben, die ersten Forschungsprojekte sollen noch heuer starten.