Die Lebenserwartung ist das durchschnittliche Alter, das Menschen in einer Gesellschaft erreichen. Ein internationales Forschungsteam um Josè Manuel Aburto vom Oxford Leverhulme Zentrum für Demographische Wissenschaften hat nun zusätzlich den Begriff der Ungewissheit der Lebensdauer definiert. Dieser bezieht sich auch auf die Lebenserwartung. Gemeint ist dabei aber nicht der Durchschnittswert, sondern die Abweichungen davon zum Todeszeitpunkt.
Das heißt, in einem Land mit einer hohen Sicherheit des Sterbealters erreichen sehr viele Menschen ein hohes Alter, weshalb Bürger und Bürgerinnen von einem langen Leben ausgehen können. Wenig Sicherheit gibt es in Ländern, wo viele Menschen schon sehr jung sterben und Faktoren wie Gewalt das Planen einer Zukunft erschweren.
Frieden und Lebenserwartung
Die nun im Fachmagazin „Science Advances“ veröffentlichte Arbeit hat sich mit den globalen Messwerten dieser spezifischen Lebensunsicherheit beschäftigt. Im Zeitraum von 2008 bis 2017 wurden 162 Länder nach diesem Kriterium analysiert.
Dazu hat das internationale Team Daten des "Global Peace Index“, der regelmäßig von der Organisation “Vison of Humanity“ erstellt wird, mit den Sterblichkeitsstatistiken verschiedener Länder abgeglichen. Laut der Studie ist Island das Land mit der höchsten Sicherheit die volle Lebenserwartung zu erreichen, gefolgt von Dänemark und der Schweiz. Österreich belegt Platz sechs der zukunftssichersten Länder. Die Länder Norwegen, Schweden, Slowenien, Portugal, Tschechien und Neuseeland erreichen ebenfalls positive Werte.
Hohe Zuversicht in Österreich
In Österreich liegt die Lebenserwartung für Männer bei rund 79 Jahren, während Frauen ein durchschnittliches Alter von ungefähr 83 Jahren erreichen. Diese Werte werden aufgrund des stabilen Gesundheitssystems und der friedlichen politischen Situation von allen als „normale“ Lebensdauer angesehen. In rund 80 Lebensjahren kann jeder und jede in die eigene Zukunft in Form von Ausbildung und gesundem Lebensstil investieren. Todesfälle, die weit unter diesem durchschnittlichen Alter liegen, sind unerwartete Tragödien und Ausnahmesituationen. So ergibt sich insgesamt eine hohe Zuversicht der Bevölkerung.
Von einem Tag zum nächsten
In Ländern mit einer geringen Lebenssicherheit kommt es hingegen zum gegenteiligen Phänomen. So ist zum Beispiel die Sterberate von Männern zwischen 18 und 35 Jahren in Lateinamerika auf Grund von Morden und zwischenmenschlichen Konflikten überdurchschnittlich hoch.
Der häufige frühe Tod hat laut der Studie einen direkten Einfluss auf die Lebensweisen der Menschen. „Wenn man in einem Umfeld lebt, wo die Menschen beinahe willkürlich in unterschiedlichem Alter sterben, zum Beispiel aufgrund von Gewalt, passt man seine Mentalität an“, erklärt Wissenschaftlerin Vanessa di Lego vom Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gegenüber science.ORF.at. Je mehr junge Menschen sterben, desto schwieriger können sich Personen vorstellen in ein langes Leben zu investieren. “Warum sollte ich in meine Gesundheit und meine Ausbildung investieren, wenn ich nicht einmal weiß, ob ich morgen noch lebe“, nennt Di Lego als grundlegende Frage.
Formen der Gewalt
Direkte sowie indirekte Auswirkungen von Gewalt erhöhen das Risiko für Depressionen, Alkoholmissbrauch und suizidalem Verhalten. Während Männer vermehrt direkter Gewalt ausgesetzt sind, erleiden Frauen eher indirekte Gewalt. Direkte Gewalt, die mitunter zum Tod führt, zeigt sich vor allem in Kriegs- und Krisengebieten und bei zwischenmenschlichen Konflikten. Die Mordrate von Männern in Lateinamerika ist zehnmal höher als bei Frauen.
Indirekte Gewalt bezeichnet Missbrauch, der nicht unbedingt zum Tod führen muss. Häusliche und sexuelle Gewalt, soziale Hürden und gesundheitlichen Problemen beeinflussen die Lebensqualität von Frauen bereits in jungen Jahren. Zu den indirekten Einflüssen von Gewalt zählt außerdem der Tod eines Mitmenschen. Vor allem für Frauen und Kinder in gefährdeten Regionen stellen die damit verbundenen mentalen sowie finanziellen Sorgen zusätzliche Unsicherheiten dar. „Die Menschen, die zurückgelassen werden, leben mit der Unsicherheit nicht zu wissen, wer als nächstes stirbt“, sagt Di Lego. Die Studie zeigt weiters, dass häufig von Gewalt betroffene Personen selbst vermehrt gewalttätig handeln. Intime und häusliche Gewalt in einer Familie prägt das Leben von Kindern. Sie kann Ängste und langanhaltende psychische Störungen auslösen.
Internationaler Vergleich
Neben Mittel- und Südamerika nennt die Studie Regionen in Nordafrika als stark von Ungewissheit betroffen, vor allem aufgrund politischer Konflikte. Das betrifft ebenfalls Gebiete im Nahe Osten, das Land mit der höchsten Unsicherheit hinsichtlich der Lebensdauer ist Syrien.
Die Studie spricht auch die Gefahren der Waffenpolitik in Amerika an. Damit verbundene Unfälle oder Angriffe an öffentlichen Orten wie Schulen erhöhen ebenfalls die Unsicherheit hinsichtlich der Lebensdauer.
Europa galt in der Zeitspanne der Studie als friedlichster Kontinent in Bezug auf die Lebensunsicherheit. Die Daten wurden allerdings vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine erhoben.
Globales Gesundheitsproblem
In friedlichen Ländern wie Österreich brauche es Verhaltensänderungen der Einzelnen, um die Lebenssicherheit zu erhöhen. In den gefährlichsten Ländern sind die Probleme struktureller Natur und verbunden mit gesetzlichen Ungleichheiten. Bewaffnete Konflikte und Morde bezeichnet Forscherin di Lego als öffentliche Gesundheitskrise. „Wissenschaftler warnen seit Jahren, dass Gewalt als globales Gesundheitsproblem verstanden werden muss und nicht als lokale Problematik einzelner Gesellschaftsgruppen oder spezifischer Länder“, betont Di Lego im Gespräch mit science.ORF.at.