Andre Gorz 1998
EPA
EPA
André Gorz

100. Geburtstag eines Vordenkers

Heute vor 100 Jahren, am 9. Februar 1923, ist André Gorz in Wien auf die Welt gekommen. In Frankreich wurde er zu einem der wichtigsten Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts. Gorz entwickelte zukunftsweisende Konzepte wie „Degrowth“ – also die Aussicht auf eine Wirtschaft, die nicht ewig wächst -, ein Grundeinkommen für alle und eine ökologische Wende.

„Gorz war ein richtiger Vordenker. In den 1970er Jahren war er einer der Ersten, der beschrieben hat, wie der Kapitalismus mit seinem opulenten Konsum zu einer Umweltkrise führen muss“, sagte der französische Ökonom und Gorz-Kenner Christophe Fourel in einem science.ORF.at-Interview 2009. „Er wurde so zu einem Vorvordenker der Ökobewegung.“

Anlass für das Interview war der zweite Todestag von Gorz am 22. September 2007. An dem Tag hatte er sich mit seiner Frau Dorine in ihrem Landhaus in Vosnon, im Nordosten Frankreichs, das Leben genommen. Dorine war todkrank, die beiden hatten 58 Jahre gemeinsam verbracht und wollten nicht ohne einander leben. Das Dokument ihrer Liebe, Gorz‘ Buch „Brief an D.“ aus dem Jahr 2006, brachte ihm die größte publizistische Bekanntheit ein.

Viele Pseudonyme

Geboren wurde André Gorz am 9. Februar 1923 in Wien – und zwar unter dem Namen Gerhart Hirsch. Wegen des anwachsenden Antisemitismus konvertierte sein jüdischer Vater in den 1930 zum Katholizismus und nahm den Familiennamen Horst an. Der Verfolgung durch die Nazis entging der nun Gérard Horst Genannte durch Schulbesuch und Chemiestudium in Lausanne in der Schweiz.

1949 übersiedelte er nach Paris, wo er als „André Gorz“ begann, sozialphilosophische Studien zu schreiben. Er wurde ein enger Mitarbeiter von Jean-Paul Sartre, dessen existenzialistische Variante von Marxismus er lange teilte, wurde Redaktionsmitglied in der von Sartre und Simone de Beauvoir gegründeten Zeitschrift „Les Temps Modernes“ und einer der Gründer des französischen Nachrichtenmagazins „Nouvel Observateur“.

Seine jahrelange Tätigkeit als Journalist – wieder unter einem anderen Pseudonym (Michel Bosquet) – wirkte sich positiv auf seine philosophischen und politischen Schriften aus. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen bildete bei ihm gedankliche Tiefe und allgemeine Verständlichkeit keinen Gegensatz.

Dorine und Gerard Horst
Public Domain
Dorine und Gérard Horst

Sah viele Entwicklungen früh voraus

Gorz beschäftigte sich intensiv mit gesellschaftlichen und ökonomischen Themen, manches erscheint rückblickend prophetisch wie etwa seine Analysen aus den 1980er Jahren zur Krise der klassischen Arbeitsverhältnisse und der Zunahme prekärer Beschäftigung. „Er war auch einer der Ersten, der beschrieben hat, wie die Realwirtschaft immer mehr zum Anhängsel der Finanzwirtschaft wird“, betonte Gorz-Kenner Christophe Fourel.

Der französische Philosoph mit Wiener Wurzeln prägte auch den Begriff „Degrowth“ mit – und zwar bereits 1972, woran das World Economic Forum im Vorjahr erinnerte. Im gleichen Jahr war auch der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome erschienen. Gorz entwickelte eine politische Ökologie, die sich gegen den Wachstumszwang des Kapitalismus und die damit verbundene Ausbeutung natürlicher Ressourcen wandte. Kapitalistisches Wirtschaften schaffe stehts neue, zuvor nicht existente Bedürfnisse, die Konsumentinnen und Konsumenten zum Kauf anregen sollen.

Kritik an Wachstumszwang

Gorz‘ wachstumskritischen Theorien plädierten für eine ökologische Umgestaltung der Gesellschaft und einen höheren Grad an Selbstbestimmung für das Individuum. Weniger Einfluss von Werbung und Kommerz, mehr autonome Tätigkeiten und eine gemeinschaftliche Nutzung von Gegenständen und Dienstleistungen – so könnte man seine Ideen zusammenfassen. In den 1980er Jahren wurden sie von den neuen Grünen Parteien und Teilen der Sozialdemokratie aufgegriffen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks distanzierte sich Gorz vom Marxismus – und damit auch vom traditionellen Fortschrittsoptimismus der Linken. „Ob es eine optimistische Moral von der Geschichte gibt, wissen wir nicht. Viel Augenschein spricht dagegen“, schrieb er 1991 in dem Buch „Und jetzt wohin?“ – unter dem Eindruck des Zweiten Golfkriegs.

Wiederversöhnung von Produktion und Konsum

Gorz hielt Marx für einen bedeutenden Theoretiker, der die Funktionsweisen des Kapitalismus gut beschrieben hat. „Aber die Praxis, die sich auf ihn berufen und in den Stalinismus geführt hat, hielt er für eine völlige Verirrung“, sagte Gorz-Kenner Fourel. „Es reicht eben nicht aus, die Besitzer der Produktionsmittel zu ändern, um einen Systemwechsel herbeizuführen.“ Das seien nicht Gorz’ Vision der gesellschaftlichen Entwicklung gewesen.

In Werken wie „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ und „Abschied vom Proletariat“ warb er für die Befreiung des Individuums von den Zwängen der Industrie- und Konsumgesellschaft. In der Trennung von Produktion und Konsum sah er ein Hauptübel. „Gorz hat versucht, eine Gesellschaft zu denken, die eine Wiederversöhnung der beiden Sphären möglich macht“, so Fourel.