Stepan Bandera (1909 bis 1959)
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Stepan Bandera

Krieg als Turbo für „Heldenmythos“

Kaum eine Figur der Zeitgeschichte sorgt im Sog des russischen Angriffskrieges in der Ukraine für derart heiße Diskussionen wie Stepan Bandera. Der Nazi-Kollaborateur wird in der Ukraine oft als Nationalheld verehrt – Russlands Propaganda nimmt das zum Anlass, um Ukrainer und Ukrainerinnen pauschal als „Nazis“ darzustellen. Der Krieg wirkt wie ein Turbo für den Heldenmythos.

Stepan Bandera ist eines der Lieblingsthemen von Wladimir Putin. Selbst auf der jährlichen Militärparade im Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges sprach Putin im Mai 2022 am Roten Platz von den „Banderisten“. Die russische Propaganda meint damit ukrainische NS-Sympathisanten, verunglimpft Ukrainer und Ukrainerinnen pauschal als Faschisten und leitet davon einen imperialen Herrschaftsanspruch über die Ukraine ab.

Programmhinweis

Menschen&Mächte: „Ukraine – Der lange Kampf um Unabhängigkeit“, 14.2, 22:35 Uhr in ORF2

In der Ukraine hingegen ist Stepan Bandera für viele ein Nationalheld. Einer, der früh für eine unabhängige Ukraine gekämpft hatte und 1959 vom KGB umgebracht wurde. Seit Beginn der russischen Invasion hat sich seine Anhängerschaft vergrößert. „Jetzt wird Bandera sehr positiv gesehen. Durch den Krieg hat sich das verändert,“ sagt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak von der Universität Lwiw/Lemberg. Es scheint, als würden Verehrung und Ablehnung Banderas in Kiew und Moskau entgegengesetzt verlaufen: je stärker der Hass auf Bandera in Russland, desto größer die Verehrung ihm gegenüber in der Ukraine.

Menschen & Mächte: Ukraine – Der lange Kampf um Unabhängigkeit

Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, am 24. Februar 2022, sucht eine aktuelle „Menschen & Mächte“-Dokumentation nach den historischen Wurzeln dieses Krieges. Der Blick zurück in das 20. Jahrhundert zeigt, dass die Ukraine schon sehr lange um die Unabhängigkeit kämpfen musste. Schon vor über 100 Jahren wurde der junge Staat zwischen den Großmächten Russland und Deutschland aufgerieben. Später waren Hitler und Stalin für Tod und Leid von Millionen in der Ukraine verantwortlich.

„Faschistischer Held“

„Man kann ihn sowohl als radikalen Nationalisten als auch als Faschisten bezeichnen,“ sagt der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe, der eine Bandera-Biografie verfasst hat. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder nannte Bandera „einen faschistischen Helden“. Forschungen zeigen, wie sich Bandera dafür einsetzte, dass aus der Ukraine ein ethnisch homogener Staat wird. Wissenschaftlich unbestritten ist, dass Bandera und seine Kämpfer der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN-B) Verantwortung tragen: für Pogrome gegen die jüdische Zivilbevölkerung 1941 und für die Beteiligung an Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden in Kollaboration mit Einsatzgruppen des NS-Regimes.

In den späten 1920er-Jahren richtete sich der Kampf junger Ukrainer in Lwiw, einst Hauptstadt des Kronlandes Galizien in der Donaumonarchie, gegen die polnische Herrschaft, die seit Ende des Ersten Weltkrieges die Macht in Galizien übernommen hatte. „Die Ukrainer fühlten sich immer mehr zurückgedrängt,“ sagt Katherine Younger, Historikerin am Institut für die Institut vom Menschen (IWM) in Wien. „Viele von ihnen radikalisierten sich. So entsteht die ‚Organisation der Ukrainischen Nationalisten‘ in Galizien.“

Ukrainische Blau-Gelbe Nationalflaggen und Schwarz-Rote Flaggen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) aus dem Zweiten Weltkrieg. Lwiw, am 1.1.2023
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Ukrainische Blau-Gelbe Nationalflaggen und Schwarz-Rote Flaggen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) aus dem Zweiten Weltkrieg. Lwiw, am 1.1.2023, vor Bandera-Monument.

Ab 1939 richtet sich der ukrainische Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft, die mit brutaler Gewalt und Unterdrückung gegen die ukrainische Bevölkerung vorgeht. 1941, nachdem die Wehrmacht die Sowjetunion überfallt hat, sind die Erwartungen von Stepan Bandera und seinen Kämpfern groß. „Es ist die Hoffnung, dass man nun mit den deutschen Truppen gemeinsam voranzieht und eine unabhängige Ukraine schafft. Nichts davon passiert,“ sagt Hannes Leidinger von der Universität Wien. Nazi-Deutschland hat nämlich kein Interesse an einem unabhängigen, ukrainischen Staat. Und Stepan Bandera kommt ins KZ, in so genannte „Ehrenhaft“. Dieser Umstand ermöglicht ein Narrativ, das Bandera als Nazi-Opfer in den Mittelpunkt rückt.

Auch wenn Bandera selbst aufgrund der Verhaftung nichts mehr ausrichten kann, geht für seine Soldaten der Kampf weiter. Viele von Ihnen tun dies ab 1942 in der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA), dem militärischen Flügel von Stepan Banderas „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN-B).

Die Flagge der Aufstandsarmee

Die Rot-Schwarzen Flaggen der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ aus dem Zweiten Weltkrieg waren auch am 1.1.2023 in Lwiw zu sehen. Vor einem 2007 errichteten Monument zu Ehren von Stepan Bandera treffen sich politische Funktionäre, kirchliche Würdenträger sowie Anhänger und Anhängerinnen Banderas. Zuletzt hatten diese alljährlichen Treffen, im Gedenken an Banderas Geburtstag am 1.1.1909, zu diplomatischen Verstimmungen geführt, vor allem mit Israel und Polen. Denn Banderas Aufstandsarmee trägt die Verantwortung für den Tod von rund 100.000 Menschen, vor allem Polen und Polinnen sowie Juden und Jüdinnen im Zweiten Weltkrieg.

Der Lwiwer Bürgermeister Andrij Sadowyj (3. v. l.) bei einer Kranzniederlegung für Stepan Bandera am 1.1.2023 in Lwiw.
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Der Lwiwer Bürgermeister Andrij Sadowyj (3. v. l.) bei einer Kranzniederlegung für Stepan Bandera am 1.1.2023 in Lwiw.

Doch im Jänner 2023 ist sogar der Lwiwer Bürgermeister Andrij Sadowyj bei der Kranzniederlegung vor dem Monument anwesend. „Putin hat Bandera zum Nationalhelden gemacht,“ sagt Historiker Hrytsak zur veränderten Rezeption Banderas.

Wahrscheinlich ist, dass viele gegenwärtige Anhänger und Anhängerinnen Banderas nicht wissen, welche Verbrechen er als Anführer der OUN-B mitzuverantworten hat. Noch wahrscheinlicher, dass er in der Ukraine in erster Linie als Symbol für den ukrainischen Widerstand gesehen wird – in Kriegszeiten zuallererst den Widerstand gegen Russland.