Physiker und Nobelpreis Andre Geim an der Akademie der Wissenschaften
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Interview

„Das Graphenzeitalter hat gerade begonnen“

Andre Geim, Nobelpreisträger und Pionier der Graphenforschung, sieht ein neues Technologiezeitalter auf uns zukommen: Im ORF-Interview erklärt der Physiker, wie das Graphen – eine Variante des Kohlenstoffs – zu Tausenden „Brüdern und Schwestern“ kam und warum für ihn Klebeband das wichtigste Laborwerkzeug ist.

science.ORF.at: Herr Geim, Graphen wird häufig als „Wundermaterial“ bezeichnet …

Andre Geim: … weil sich die Leute bis heute über seine außergewöhnlichen Eigenschaften wundern. Graphen ist ja im Grunde nichts anderes als eine Atomebene von Graphit. Wenn man von einer Substanz einen Teil wegnimmt, dann hat dieser Teil normalerweise die gleichen Eigenschaften dieser Substanz. Das ist in diesem Fall nicht so: Graphit ist weich, aber in seiner Form kaum veränderbar, Graphen ist extrem belastbar, kann aber leicht gedehnt und gebogen werden. Dass sich Graphen von seiner „Mutter“ so stark unterscheidet, war völlig unerwartet. Es gibt bei diesem Material eine lange Liste von Superlativen, Graphen ist zum Beispiel für viele Substanzen komplett undurchdringlich, es ist extrem dünn und extrem leitfähig – und so weiter, die Liste ist wie gesagt lang.

Vortrag an Akademie

Auf EInladung der ÖAW hielt Andre Geim letzte Woche in Wien den Vortrag „Random Walk to Graphene“.

Der für seine unkonventionellen Ideen bekannte Geim hat neben dem Physik-Nobelpreis auch den Ig-Nobelpreis gewonnen – für Versuche mit schwebenden Fröschen.

Gibt es eine einfache Erklärung für diese außergewöhnlichen Eigenschaften?

Geim: Leider nein. Vor 20 Jahren war man noch der Ansicht, dass jedes Objekt in unserer Welt dreidimensional sein muss, also Länge, Breite und Höhe hat. Dass es Materialien geben könnte, die bloß eine Atomlage dick – also zweidimensional sind, war damals unvorstellbar. Mittlerweile wissen wir: Es gibt sogar sehr viele zweidimensionale Materialien, hier eröffnet sich der Wissenschaft ein ganz neues Universum.

Können Sie noch den Überblick behalten bei all den verschiedenen Forschungsansätzen?

Geim: Die ersten drei bis fünf Jahre nach unseren ersten Arbeiten über Graphen ging es noch, aber mittlerweile ist das völlig unmöglich. Es gibt tausende verwandte Materialien mit ähnlichen Eigenschaften. Das hat die Forschungslandschaft grundlegend verändert. Um den Impact in Zahlen auszudrücken: Die Kosten für Experimente und eine typische wissenschaftliche Veröffentlichung liegen im Bereich von 100.000 Dollar. Nun gibt es pro Jahr mehr als 10.000 Publikationen zu diesem Thema, wir haben es größenordnungsmäßig also mit Milliarden zu tun – pro Jahr. Davon abgesehen wird Graphen bereits in unzähligen Bereichen routinemäßig verwendet, in Kabeln etwa, in Fahrrädern, Handys, Batterien, in jüngerer Zeit auch in Beton.

Es heißt, Graphen könnte auch die Elektronik revolutionieren, also das Silizium als Grundstoff ablösen.

Geim: Vor zehn Jahren war man da recht optimistisch. Ich persönlich bin nicht so überzeugt, weil es sich eher wir ein Metall als wie ein Halbleiter verhält. Ich erwarte eher, dass die größte Wirkung auf die Elektronik von einer verwandten Substanz ausgehen wird, nämlich von Molybdänsulfid.

Das große Bild: Wohin wird das alles führen?

Geim: In der Geschichte der Menschheit haben neue Materialien immer schon eine entscheidende Rolle gespielt. Zunächst war es Stein, nach der Steinzeit kam die Bronzezeit, dann die Eisenzeit. Heute leben wir, wie man argumentieren könnte, im Zeitalter des Siliziums und des Plastiks. Aber die Zukunft gehört dem Graphen und all seinen Brüdern und Schwestern. Das Zeitalter der zweidimensionalen Materialien hat gerade begonnen.

Vor zehn Jahren hat die Europäische Union eine Flaggschiff-Initiative zur Graphenforschung mit einem Budget von einer Milliarde Euro gestartet. Ihr Resümee?

Geim: Eine Milliarde ist zweifelsohne viel Geld, aber es ist dennoch ein relativ kleiner Anteil dessen, was Europa für Materialforschung ausgibt. Aus dem Projekt haben sich zwar auch Impulse für die Industrie ergeben, doch für viel wichtiger halte ich den Einfluss, den das Projekt auf die anderen Wissenschaftsgebiete hatte, von der Astrophysik bis hin zu den Lebenswissenschaften. Wenn man es mit anderen Flaggschiffprojekten wie zum Beispiel Gehirn- oder Quantenforschung vergleicht, kann man sagen: Graphen hat geliefert, in jeder Hinsicht.

Mikroelektroden aus Graphen für die Hirnforschung
Graphen wird auch in der Hirnforschung verwendet – hier: als Schnittstelle zu Neuro-Organoiden.

So High-Tech die Anwendungen der Zukunft sein mögen, so simpel ist die Gewinnung des Graphens: Man kann es nämlich aus Graphit mit einem ganz normalen Klebeband herstellen. Wird die Methode immer noch angewandt?

Geim: Ich würde sagen, im Labor wird die Klebeband-Methode noch immer in 90 Prozent der Fälle verwendet, jedenfalls in der Grundlagenforschung. Man bekommt zwar nur wenig Material, aber mehr als genug, um seine Eigenschaften studieren zu können. Natürlich gibt es viele Alternativen. Man kann zum Beispiel Graphit in ein Schallbad geben und es dort so stark schütteln, bis sich einzelne Atomflächen lösen. Auf diese Weise lassen sich Tonnen Graphen erzeugen, sofern man so viel benötigt.

Ist Ihnen bewusst, dass rund um Graphen auch einige Verschwörungsmythen im Internet kursieren? Da heißt es zum Beispiel, in Instantkaffee und in Covid-19-Impfstoffen sei Graphenoxid enthalten.

Geim: Ich habe davon gehört und ich muss zugeben, dass ich zu einem gewissen Zeitpunkt sehr genervt war. Erstens ist es auf jeder Ebene kompletter Unsinn. Und zweitens handelt es sich bei Graphenoxid um ein gutartiges Material, das im Körper nichts auslösen würde. Ich habe mir sogar einen Impfstoff besorgt, um zu beweisen, wie unsinnig diese Behauptungen sind. Es gib nämlich eine ganz einfache Untersuchungsmethode, um das zu überprüfen, man nennt sie Raman-Spektroskopie. Das Ergebnis: Natürlich ist in den Covid-Impfstoffen kein Graphen oder Graphenoxid drin.

Das war zu erwarten, aber ist es nicht bemerkenswert, dass nun gerade Graphen in den Sog der Verschwörungsmythen geraten ist?

Geim: Graphen spielt auch in der Science-Fiction-Literatur eine wichtige Rolle. In diesem Fall lesen Leute etwas in der Fachliteratur, sind fasziniert davon und überlegen sich dann Anwendungen, die es gar nicht gibt. So ähnlich läuft das bei den Verschwörungsmythen vielleicht auch – mit dem Unterschied: Man braucht viel weniger Zeit dafür.