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Wolfilser – stock.adobe.com
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Europa

Zähne zeigen jahrhundertealten Gendergap

Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern, wie sie heute in Europa verbreitet sind, reichen in ihren Ursprüngen bis in das Mittelalter und darüber hinaus. Das zeigt eine neue Studie. Die Forscherinnen und Forscher belegen diesen historischen Gendergap mit Daten von Hunderte Jahre alten Zähnen.

Die Studie stellt damit eine Verbindung zwischen archäologischen Funden und heutigen Einstellungen in der Gesellschaft her. Das Forschungsteam um Margit Tavits von der Washington Universität in St. Louis untersuchte dafür Zähne von mehr als 10.000 Menschen aus 139 Ausgrabungsstätten in ganz Europa. Die Ergebnisse wurden nun im Fachjournal „PNAS“ veröffentlicht.

Anhand der Zahndaten fanden die Forscherinnen und Forscher heraus, dass in Gegenden, in denen Männer schon vor Jahrhunderten gegenüber Frauen bevorzugt wurden, auch heute eine stärkere Ungleichheit besteht – im Gegensatz zu Orten, an denen schon vor Jahrhunderten eine größere Geschlechtergerechtigkeit bestand. Laut der Studie ist dies ein Beleg dafür, dass Geschlechternormen – also Vorstellungen, wie Frauen und Männer sein und handeln sollten – von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Vergleich zwischen zwei Orten

Konkret untersuchte das Forschungsteam Läsionen an den Zähnen, die durch Traumata, Unterernährung und Krankheiten verursacht worden sind. Diese Schädigungen der Zähne könne viel über den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen einer Person aussagen, heißt es in der Studie. So seien Unterschiede zwischen Zähnen von Männern und Frauen etwa ein Hinweis darauf, welches Geschlecht in puncto Gesundheitsversorgung und Nahrungsressourcen bevorzugt behandelt wurde.

Anhand von zwei Orten lässt sich veranschaulichen, wie sich die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern in der Vergangenheit in heutigen Geschlechterrollen widerspiegelt: Da ist zum einen die Ausgrabungsstätte Histria, eine ehemalige griechische Siedlung am Schwarzen Meer im heutigen Rumänien.

In zahnmedizinischen Aufzeichnungen aus der Zeit um 550 n. Chr. fand das Forschungsteam Belege für eine Ungleichheit zugunsten von Männern: Von den 49 Skeletten, für die Informationen zum Geschlecht und zu den Zähnen entnommen werden konnten, wiesen 58 Prozent der Frauen, aber nur 25 Prozent der Männer, Anzeichen von Unterernährung und Traumata an den Zähnen auf.

Ungleichheit zieht sich bis in die Gegenwart

Und auch heute noch ist die gesellschaftliche Stellung von Männern und Frauen in der südöstlichen Region Rumäniens, in der die antike Stadt Histria einst lag, immer noch ungleich. Das Forschungsteam zog dazu heutige Gradmesser für die Gleichstellung der Geschlechter heran und fand heraus: Nur 52,5 Prozent der Frauen sind in dieser Region auf dem Arbeitsmarkt vertreten, bei den Männern sind es 78 Prozent. Und der Stadtrat ist nur zu 18 Prozent mit Frauen besetzt.

Auch in der Bevölkerung sind die Einstellungen zu Geschlechterrollen ungleich, schreibt das Forschungsteam. So ist etwa mehr als die Hälfte der Menschen der Meinung, dass Männer mehr Recht auf einen Arbeitsplatz haben als Frauen, und 89 Prozent denken, dass eine Frau Kinder haben muss, um sich zu verwirklichen.

Vergleich mit Fundstätte in Litauen

Histria gegenüber stellt das Forschungsteam die Ausgrabungsstätte Plinkaigalis, eine ehemals ländliche Gemeinde im heutigen Westlitauen. Im Gegensatz zu Histria wurde in Plinkaigalis die Gesundheit der Frauen bevorzugt. Von den 157 Skeletten an diesem Fundort, ebenfalls aus der Zeit um 550 n. Chr., wiesen 56 Prozent der Männer zahnmedizinische Anzeichen von Traumata und Unterernährung auf, aber nur 46 Prozent der weiblichen Skelette.

Heute befindet sich an der Stelle von Plinkaigalis die Stadt Kėdainiai. Das Beschäftigungsniveau unterscheidet sich in der Gegend nicht stark nach Geschlecht: 76 Prozent der Männer und 72,7 Prozent Frauen sind berufstätig. Und auch in der Kommunalpolitik sind Frauen mit 48 Prozent fast gleich stark vertreten. Weniger als ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner von Kėdainiai denkt, dass Männer ein größeres Recht auf einen Arbeitsplatz haben, und 56 Prozent sind der Meinung, dass Frauen Kinder brauchen, um sich zu verwirklichen.

Pandemien und Naturkatastrophen stoppten Weitergabe

Die Studie bestätige, dass Vorurteile erhalten bleiben, weil sie von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, so Studienautorin Tavits in einer Aussendung der Washington Universität. Der starke Zusammenhang sei dennoch überraschend gewesen. Das Durchschnittsalter der Skelette in der Studie liege bei etwa 1.000 Jahren. Es sei bemerkenswert, dass die Muster der geschlechtsspezifischen Ungleichheit dieser Zeit auch heute noch zu finden seien.

Die Stabilität der Geschlechternormen über so viele Jahre hinweg erkläre auch, warum es in einigen Regionen schwierig war und nach wie vor ist, die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben. Laut der Studie überdauerten die Geschlechternormen auch Ereignisse wie die Industrialisierung und Weltkriege. Eine Ausnahme fanden die Forscherinnen und Forscher aber: In Regionen, in denen es zu einem abrupten, großflächigen Bevölkerungsaustausch kam – etwa durch eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe – wurde die Weitergabe der Rollenbilder unterbrochen.