Hannah Arendt, Kulturkongress 1958 in München
Barbara Niggl Radloff
Barbara Niggl Radloff
Hannah Arendt

Der Besuch der jüdischen Dame

1959 wurde Hannah Arendt nach Hamburg eingeladen, um den Lessing-Preis entgegenzunehmen. Die politische Theoretikerin und Publizistin konnte den Preis als Jüdin nicht ablehnen, aber auch als Deutsche nicht annehmen. Identität wird bei ihr zur politischen Tatsache, wie der Soziologe Natan Sznaider in einem Gastbeitrag beschreibt.

„Ohne die Freiheit des Politischen bleibt Kultur leblos: Das Absterben des Politischen und das Verkümmern der Urteilskraft ist die Vorbedingung für die Vergesellschaftung und Entwertung der Kultur, von der wir ausgingen. Aber ohne die Schönheit der Kulturdinge, ohne die leuchtende Herrlichkeit, in welcher sich, politisch gesprochen, Dauer und potenzielle Unvergänglichkeit der Welt manifestieren, bleibt alles Politische ohne Bestand.“

So beendete Hannah Arendt ihren Vortrag 1958 über Kultur und Politik in München. Hier zeigt sich auch der radikale Konservatismus von Arendt. Sie zeigte keine Geduld für den kulturellen und politischen Verfall moderner Gesellschaften. Kultur und Politik sind aufeinander angewiesen. Die Jüdin Hannah Arendt, die vor den Nazis von Deutschland zunächst nach Frankreich und dann in die USA floh, wusste, von was sie sprach. Konkreter wurde sie ein Jahr später.

Natan Sznaider
IFK

Über den Autor

Natan Sznaider ist Professor emeritus für Soziologie an der Akademischen Hochschule von Tel Aviv und aktuell Senior Fellow am IFK in Wien.

Veranstaltung

Sznaider hält am 20.3.23, 18.15 Uhr, den Vortrag „Der Besuch der jüdischen Dame. Hanna Arendt in Hamburg“, dieser findet am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/Kunstuni Linz in Wien in hybrider Form statt.

Hannah, die Weise, und Lessing

Die freie Stadt Hamburg verlieh Arendt den Lessing-Preis. Das war kurz vor dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und den Auschwitzprozessen in Frankfurt 1963 als Arendts Interventionen geachtet, wenn nicht sogar berüchtigt waren. Es geht Arendt um viel in dieser Rede. Viele Themen für eine Rede. Es geht um eine neue Aufklärung, um intellektuelle und reale Bewegungsfreiheit, es geht auch um Mitleid und Freundschaft als Grundlage für Politik. Es geht um die Grenzen der Solidarität. Und es geht um jüdische Identität. Über all dem schwebt die Figur des weisen Nathan.

Gotthold Ephraim Lessing setzt in seinem Drama mit der Kunstfigur „Nathan“ auch seinem Freund Moses Mendelssohn ein Denkmal. Es geht auch um Versöhnung, so dachten bestimmt diejenigen, die Arendt nach Hamburg einluden. Sie wurde als die neue weibliche Version des „Nathan“ zum Fest gebeten – Hannah, die Weise. Aber sie belächelte ein wenig die Träume der Aufklärer wie Lessing, dass Juden, wenn erst einmal emanzipiert, nicht nur Menschen, sondern freiere, vorurteilslosere, menschlichere Menschen werden würden. Das sind die Spannungen, mit denen Hannah, die Weise, arbeiten musste. Gleich am Anfang sagte sie ihrem Publikum: „Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin.“ Und sicher sagte sie das nicht aus falscher Bescheidenheit.

Aufklärung und Judenemanzipation

Lessing hat Arendt schon lange fasziniert. Toleranz, die angenommene Gleichheit der Menschen, das Suchen nach Wahrheit – das sind die Themen, die Arendt schon immer umtrieben. Es sind auch jüdische Themen, ihre Themen. 27 Jahre vor ihrer Lessing-Aufführung, im Jahre 1932, schrieb sie einen kleinen Essay, in dem sie sich gleich zu Beginn mit Lessing auseinandersetzte. „Aufklärung und Judenfrage“ wurde in der kleinen jüdischen Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland veröffentlicht, eine philosophisch-zionistische Abhandlung gegen den Universalismus der Aufklärung.

1932 war Arendt weder berühmt noch berüchtigt, eher eine frisch promovierte Philosophin ohne Anstellung. Das Unheil, die heraufziehende Katastrophe nur ahnen könnend. In diesem Essay argumentiert sie gegen Lessing und Mendelssohn, dass die Aufklärung und Judenemanzipation, die aus Juden „gleiche“ Staatsbürger schaffen wollte, Juden als Kollektiv schutzlos ließen. So ist es auch kein Zufall, dass der Essay so beginnt: „Die moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung; die Aufklärung, d. h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt.“ Diese Frage, die moderne Judenfrage, die Kehrseite der Judenemanzipation, hat Arendt seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen. Auch Lessing taucht einige Zeilen später auf: „Für Lessing ist die allen gemeinsame Vernunft das Fundament der Menschlichkeit.“

„Ich kann nur als Jüdin das Wort ergreifen“

Aber welche Frage hat die nichtjüdische Welt gestellt? Es geht um Gleichheit, um Gleichheit in einer Welt der Unterschiede, Gleichheit in einer Welt, in der gerade die Juden auf ihre Differenz bestanden und auch so von der nichtjüdischen Welt betrachtet werden. Arendt kam 1959 als Jüdin und nicht als Deutsche nach Hamburg. Es war keine Rückkehr. „Ich kann weder als Deutsche noch als Mensch zu Ihnen sprechen“, gibt sie ihrem Publikum zu verstehen, „ich kann nur als Jüdin das Wort ergreifen“. Das Bestehen auf dieser überhaupt nicht universellen Haltung zur Welt ist bis heute eine schwer erträgliche Zumutung in einer Gesellschaft gleicher Freiheits- und Rederechte. Das Unmenschliche muss doch, wenn wir weiter gemeinsam leben wollen, irgendwann ins Menschliche zurückgeholt werden können.

Hannah Arendt geht in ihrer Hamburger Rede noch einen Schritt weiter, indem sie die Zeit der wiedergewonnenen Freiheiten nach 1945 mit Bertolt Brecht als eine „finstere Zeit“ kennzeichnet. Finster sind die Zeiten, in denen der Bestand der Welt so fragwürdig wird, dass die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als dass ihre Lebensinteressen und ihre privaten Freiheiten gewährleistet bleiben. Als wäre die geteilte Welt nur eine Fassade, hinter der sich die Menschen in ihre „kleinen Lebenswelten“ zurückziehen. Auch in dieser Hinsicht trifft die Rede von 1959 ins Herz unserer heutigen Zeit.

Und schon im einige Jahre zuvor verfassten Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ sagt Arendt in der Einleitung zur Englischen Originalausgabe:


„Wir können es uns nicht länger leisten, das, was in der Vergangenheit gut war, zu übernehmen und einfach als unser Erbe zu bezeichnen, das Böse dagegen zu verwerfen und bloß als eine tote Last zu begreifen, die die Zeit selbst im Vergessen begraben wird. Der unterirdische Strom der westlichen Geschichte ist schließlich an die Oberfläche gedrungen und hat die Würde unserer Tradition verdrängt. Dies ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Und deshalb sind alle Bemühungen, aus der Düsternis der Gegenwart in die Sehnsucht nach einer noch intakten Vergangenheit zu fliehen ebenso vergeblich wie das voreilige Vergessen einer besseren Zukunft.“