Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima
NARA / Public Domain
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John Herseys „Hiroshima“

Neuauflage erinnert an atomare Gefahr

Die atomare Drohung steht im Raum – zuletzt erneuert in der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Lage der Nation im Februar. Das Wissen über die verheerende Wirkung atomarer Waffen frischt jetzt die Neuauflage einer Bestsellerreportage aus dem Jahr 1946 auf: John Herseys „Hiroshima“, ergänzt mit einem fünften Kapitel, das Hersey 40 Jahre später schrieb.

Der 1914 in der chinesischen Stadt Tianjin geborene, US-amerikanische Schriftsteller, Reporter und Journalist John Hersey wird im Mai 1946 von der Zeitschrift „The New Yorker“ nach Hiroshima geschickt. Er soll erkunden, was sich dort neun Monate zuvor wirklich zugetragen hat. Hersey verbringt einen Monat in Japan, recherchiert, spricht mit Überlebenden. Trotz der seit September 1945 geltenden Zensur der Besatzungsbehörde, die jegliche Berichterstattung in Wort und Bild über die Folgen des Atombombenabwurfs verbietet, gelingt es ihm, seine Reportage zu veröffentlichen.

6. August 1945, 8:15 Uhr

Über der japanischen Stadt Hiroshima explodiert eine Atombombe, abgeworfen aus einer amerikanischen B-29, der „Enola Gay“. Die Uranbombe „Little Boy“ mit einer Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT tötet auf Anhieb rund 120.000 Menschen.

Hersey zeichnet die Berichte von sechs Menschen auf, die sich an jenem Tag in Hiroshima befunden haben, und die zufällig überlebten: Toshiko Sasaki, Beamtin bei den Ostasiatischen Zinnwerken, Reverend Kiyoshi Tanimoto, Pastor der Methodistenkirche von Hiroshima, Pater Wilhelm Kleinsorge, katholischer deutscher Missionar, Masakazu Fujii, Arzt mit eigenem Privatspital, Hatsuyo Nakamura, Witwe eines Schneiders mit drei Kindern, Terufumi Sasaki, Arzt im Kreuz-Spital von Hiroshima.

Was die Atombombe anrichtet

Hersey führt die Fäden der Erinnerungen und Lebensgeschichten dieser Hibakusha (so werden in Japan die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki genannt) zusammen und verbindet sie zu einer großen Reportage – der weltweit ersten über das menschliche Leid, das die Atombombe verursacht hat. Am 31. August 1946 wird sein Bericht in einem Sonderheft des New Yorker veröffentlicht und löst eine Sensation aus. Von den diversen Buchausgaben sind bis heute mehr als 30 Millionen Exemplare verkauft worden.

9. August, 11:02 Uhr

Über dicht bewohntem Gebiet der südjapanischen Stadt Nagasaki wird die zweite Atombombe abgeworfen: „Fat Man“, Spaltmaterial Plutonium 239, Sprengkraft 21 Kilotonnen TNT. Auf einen Schlag sind die Leben von rund 90.000 Menschen ausgelöscht.

Herseys Protagonistinnen und Protagonisten erzählen von den Sekunden und Minuten nach dem Einsatz der mysteriösen neuen Waffe. Wie sie an ihrem jeweiligen Standort vom Lichtblitz erschüttert wurden, der den Himmel zerriss, von der Wucht der Explosion, dem darauffolgenden Sturmwind und der Feuersbrunst. Sie erzählen von ihren Verwundungen und Schmerzen, von dem enormen Schock. Wie sie durch die Trümmerwüste, das Chaos und die Finsternis irrten, im Fluss Zuflucht vor dem Feuer suchten. Über die verzweifelten Hilfeschreie der Verletzten in den Trümmern, deren Rufe nach Wasser.

Sie erzählen, dass es kaum Hilfe für die Verwundeten gab, weil alle Spitäler zerstört, Ärzte und Schwestern tot oder verwundet waren. Und wie danach der schwarze Regen kam, der aussah, als rinne Öl vom Himmel – dabei war es der nukleare Fallout, vermischt mit dem in die Stratosphäre geschleuderten Staub. Wie ihnen Menschen begegneten, mit leeren Augenhöhlen, denen die Augen herausquollen und denen die Haut in Fetzen herunterhing. Sie berichten vom entsetzlichen Gestank und den Massenverbrennungen der Leichen. Sie erzählen von der Apokalypse in Hiroshima.

Toshiko Sasaki, Hiroshima
Public Domain
Toshiko Sasaki

Lebenslange Schmerzen und Krankheiten

Bei Jung und Jung erscheint die Reportage nun erstmals mit dem von Alexander Pechmann ins Deutsche übersetzten fünften Kapitel, das Hersey 40 Jahre später geschrieben hat. Die sechs Hibakusha erzählen darin von lebenslangen Schmerzen und Krankheiten. Vom plötzlichen Auftauchen der Strahlenkrankheit, die sie schwach und unfähig gemacht hat, zu arbeiten. Vom langen Kampf um das eigene Leben und das ihrer Kinder. Von Armut, von verzweifelten Versuchen, sich durchzuschlagen. Von quälenden, traumatischen Erinnerungen.

Buchcover, Hiroshima, John Hersey
Jung und Jung Verlag

Buchhinweis

John Hersey: Hiroshima. Aus dem amerikanischen Englisch von Justinian Frisch und Alexander Pechmann. Jung und Jung, 224 Seiten, 23 Euro.

Sie erzählen, dass sie erst nach 1957 kostenlose medizinische Versorgung bekamen, nachdem ein Gesetz zur medizinischen Versorgung der Atombombenopfer verabschiedet worden war. Das war erst, nachdem 1954 der japanische Fischkutter „Lucky Dragon V“ im Pazifik in den radioaktiven Fallout des amerikanischen Kernwaffentests „Castle Bravo“ geraten war.

Ukraine-Krieg als Anlass für Neuauflage

Der österreichische Wissenschaftspublizist und Zukunftsforscher Robert Jungk, Galionsfigur der Antiatombewegung, schrieb das Vorwort für die erste, 2005 in der Europäischen Verlagsanstalt erschienene, deutsche Übersetzung von „Hiroshima“. In Hiroshima seien nicht nur Hunderttausende Opfer einer einzigen, „kleinen“ Atombombe geworden, so Jungk, sondern: „Es starb an jenem Tag auch die Pflicht der Wissenden in Staat und Forschung, die Wahrheit über die neuen und bis dahin, ungekannten Folgen wissenschaftlich-technischen Handelns nach bestem Wissen und Gewissen zu sagen. Schlimmer noch, statt Aufklärung wurde Propaganda betrieben.“

Hersey war einer der ersten, die den Versuch durchkreuzten, den Atomkrieg zu verharmlosen. Jungk ist ihm 1959 mit seinem eindringlichen Hiroshima-Werk „Strahlen aus der Asche“ nachgefolgt. Wenn im Zuge des Krieges in der Ukraine wie nebenher über den möglichen Einsatz atomarer Waffen diskutiert wird, werde man den Eindruck nicht los, dass das historische Wissen über deren verheerende Wirkung aus dem Bewusstsein gerückt sei, heißt es in einem Statement vom Verlag Jung und Jung über die Motivation, Herseys Reportage nach 77 Jahren neu aufzulegen. Abgesehen davon sei der Text auch ungemein gut, und einnehmend erzählt, eine Reportage von literarischer Qualität. Dem ist nichts hinzuzufügen.