Demonstration wütender Männer
Rick – stock.adobe.com
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Polarisierung

Kein Widerspruch: Gefühle und Fakten

Angst vor den Folgen des Ukraine-Krieges, Wut gegen „Klimakleber“ und Wurschtigkeit im Homeoffice: Starke Gefühle prägen die Gegenwart und tragen zur Polarisierung der Gesellschaft bei. Doch Emotionen stehen nicht unbedingt im Gegensatz zu Fakten, meint die Soziologin Anna Durnova – und sie könnten verfeindete Gruppen mehr verbinden, als sie oft glauben.

Donnerstagabend hat Anna Durnova bei ihrer Antrittsvorlesung an der Universität Wien die Ambivalenz der Gefühlswelt in Zeiten der Vielfachkrisen betont. Vorab sprach sie gegenüber science.ORF.at über das „Blah-Gefühl“ der Pandemie, die Wichtigkeit von Empathie – und einem Kaffeehäferl, das Hoffnung gibt.

Ich bin gerade mit dem Rad zu Ihnen gekommen, und hab dabei ein in Wien weit verbreitetes Gefühl empfunden: Hass – gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern und Stadtplanern. Was war Ihr letztes prägendes Gefühl?

Anna Durnova: Stress. Das Leben als Professorin an einer Uni und in einer Leitungsfunktion ist durchaus fordernd. Und ich bin auch zweifache Mutter.

Porträtfoto der Soziologin Anna Durnova
Eugenie Sophie

Anna Durnova,Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Wien, hat am 23.3. ihre Antrittsvorlesung gehalten.

Artikel von Anna Durnova

Stress ist heute weit verbreitet, dazu zeigen sich an vielen Stellen auch offen Angst, Wut, Beleidigtsein, Depression … Gibt es so etwas wie eine vorherrschende Gefühlslage in unserer Gesellschaft?

Durnova: Meine Forschung zeigt, dass Gefühle immer komplex sind. Obwohl wir versuchen, eine lineare Erklärung zu finden im Sinne von „Angst kommt, weil …“ zeigt die Forschung oft einen Mix von gegensätzlichen und ambivalenten Emotionen. Ein gutes Beispiel dafür stammt aus der Pandemie. Im angelsächsischen Raum heißt das Gefühl „Languishing“: also ein „Blah-Gefühl“, ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, wo man nicht weiß, was stattfinden wird etc. Genau dieses Gefühl bezeichnet die Pandemie am besten. Es ist aber nicht klar definiert, sondern komplex. Es kann manchmal pathologisch werden, manche neigen dann zu Depressionen. Das zeigen zum Beispiel Zahlen zu Jugendlichen und Kindern auch in Österreich. Oder es kann auch nur so eine Phase sein, die mir dann auch ermöglicht, sich wieder zu orientieren. Gerade diese Schwankungen und diese Ambivalenz kommt in der öffentlichen Debatte oft nicht vor. Weil wir erstens wissen wollen: Ist diese Emotion so oder so? Ist sie gut oder böse? Ich würde sagen: So eine Antwort gibt es nicht.

Dennoch sprechen auch Sie von einer polarisierten Gesellschaft. Würden Sie sagen, dass die Gefühle in dieser polarisierten Gesellschaft auf beiden Seiten ambivalent sind?

Durnova: Ja, und ich finde auch die Debatte über gesellschaftliche Polarisierung verkürzt, wenn wir die einen als die Guten und die anderen als die Bösen porträtieren. Das soll jetzt nicht heißen, dass wir keine Wertung machen sollen. Es gibt tatsächlich nicht-demokratische Taten in diesen Polarisierungen, und die sollte man auch benennen. Nur ist es auch wichtig zu sehen, welche Gefühlslagen dazu führen, dass Leute zum Beispiel demonstrieren und dass ihre Gefühle vielleicht auch ambivalent sind. Wenn wir diese ambivalenten Gefühle ansprechen würden, wäre das vielleicht ein Weg, die Polarisierung ein bisschen zu dämmen.

Ein Beispiel?

Durnova: Gerade haben wir ganz viele Konflikte um das Autofahren und um die Art und Weise, wie Städte im globalen Norden geplant wurden. Wir sehen auf beiden Seiten ganz viele Gefühle, sie sind aber auf beiden Seiten ambivalent. Viele Leute vom Land fürchten sich tatsächlich vor dem, was passieren wird, wenn der Alltag nicht mehr so ist, wie sie das gewöhnt sind. In der Debatte gehen wir aber auf diese Gefühlslage gar nicht ein. Wir versuchen einzuordnen: Bist du dafür oder dagegen? Meine Forschung sagt, dass wir, wenn wir uns mit diesen Gefühlslagen auseinandersetzen, vielleicht auch Räume finden, in denen wir die richtigen Antworten liefern können – weil wir erst dann die Fragen von diesen Leuten verstehen, die vielleicht nicht „gegen oder für Autofahren“ sind, sondern unsicher, wie sie das alles bewältigen sollen.

Weil sie etwa Angst haben, nicht mehr von A nach B kommen?

Durnova: Genau. Sie fragen sich: Wenn das Auto keinen Verbrennungsmotor mehr hat, wie sollen wir das ökonomisch bewältigen? Wir finden gerade in der Klimapolitik, aber auch in der Arbeitsmarktpolitik viele Bereiche, wo Unsicherheit mitspielt. Aber diese Unsicherheit wird gar nicht angesprochen. Jeder von uns hat Angst vor Veränderung. Wenn ich Ihnen sage, morgen wird es anders sein, werden Sie Unsicherheit spüren. Und mit dieser Unsicherheit wird viel zu wenig in der polarisierten Gesellschaft gearbeitet. Und ich glaube, das führt zu einer weiteren Polarisierung.

In der Pandemie gab es auch viel Angst. Die Angst derer, die sie sich nicht anstecken und erkranken wollten; und die Angst anderer, die ihre Freiheitsrechte bedroht sahen. Das soll jetzt politisch und wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Was könnte der soziologische Beitrag zu diesem Prozess sein?

Durnova: Ein erster Schritt könnte sein, dass wir die jeweilige Einrahmung aufarbeiten. Wie hat die eine Seite argumentiert, was waren die Vorstellungen der Gegenseite? Wenn wir das machen würden, würden wir nicht nur feststellen, dass dieses Pro und Kontra gar nicht so schwarz-weiß war, wie es durch die Medien und die öffentliche Debatte schien, sondern dass es auch gemeinsame Gefühle oder gemeinsame Sorgen gab. Und die könnten wieder zu einer Entpolarisierung beitragen.

Dem vorgelagert wäre aber Empathie, also die Fähigkeit, sich auf den jeweils anderen oder die jeweils andere einzulassen …

Durnova: Empathie ist ein sehr schönes Gefühl und sehr wichtig für eine demokratische Gesellschaft. Sie wird viel zu oft vergessen. Wir gehen etwa an den Schulen stark von Ehrgeiz, Fleiß und Leistungsdruck aus – und geben Zusammenarbeit oder Sich-Hineinfühlen in andere viel weniger Raum.

Spricht das für ein „Schulfach Empathie“?

Durnova: Das wäre eine Möglichkeit. Ich glaube in Dänemark gibt es so etwas, nicht als eigenes Schulfach, aber es wird in Schulen geübt. Und ich finde in einer Gesellschaft, die so differenziert und individualisiert ist wie die unsere, ist Empathie eigentlich die einzige Chance zu überleben.

Zu einem weiteren positiven Gefühl, nämlich dem Gefühl der Hoffnung: Ernst Bloch hat über das „Prinzip Hoffnung“ drei Bände geschrieben und darin formuliert, wie eine konkrete Utopie entstehen kann. Sie zitieren bei Ihrer Antrittsvorlesung die Inschrift auf einem Kaffeehäferl, wonach dieses „Hoffnung in einer Welt voller Chaos“ sei. Wie schafft das dieses Kaffeehäferl?

Durnova: Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht nur individualisiert und sehr emotionalisiert ist, sondern die auch viele materielle Ressourcen hat. Und diese Konsumgesellschaft hat auch Instrumente entwickelt, wie wir Emotionen durch Dinge wie Kaffeehäferln ausdrücken und stillen können. So kann auch ein Kaffeehäferl als eine Tasse der Hoffnung, der Ruhe und des Rückzugs verkauft werden. Und sie muss sogar so verkauft werden, weil das Gebot der Stunde ist, quasi alles über Emotionen zu argumentieren. Nicht: Du brauchst diesen Kaffee, damit du deinen Durst stillst! Sondern: Du brauchst diesen Kaffee, weil du dich danach besser fühlen wirst!

Das zentrale Argument ist also das Verkaufen?

Durnova: Eigentlich schon. Man könnte hier mit der Soziologin Eva Illouz sagen, dass die Konsumgesellschaft stark mit Emotionen arbeitet, weil sie dazu beitragen, dass man noch mehr konsumiert. Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Druck verursachen Stress. Und dann schafft man konsumorientierte Instrumente, wie man den Stress wieder bewältigt.

Bei Ernst Bloch war Hoffnung ein gesellschaftliches Projekt, und dabei geht es um eine individuelle Konsumerfahrung …

Durnova: Ich glaube, das müssen wir bei einer Soziologie der Emotionen mitbedenken. Langfristig sollte sie ein bisschen gegen diesen Individualisierungstrend kämpfen. In dem Sinne, dass wir immer wieder darauf hinweisen, dass Emotionen nicht in einem Vakuum entstehen. Sie sind sozial bedingt, genderbedingt, körperbedingt und altersbedingt – und deshalb sind sie nicht gleich. Diese Debatte muss eigentlich stattfinden, um eine Demokratisierung der Gefühle zu ermöglichen.

Sie haben schon vor vielen Jahren zum „postfaktischen Zeitalter“ gearbeitet. Ein zentraler Gedanke dabei ist, dass Emotionen im Gegensatz zu Fakten stehen – wie sehen Sie das?

Durnova: Ich habe damals zum öffentlichen Bild von Wissenschaft geforscht, konkret im Zusammenhang mit einem March for Science 2017 in den USA. Ich wollte zeigen, dass eine strikte Gegenüberstellung von Fakten und Emotionen – also das, was Fakten sind, sind nicht Emotionen, und umgekehrt -, gefährlich ist und Polarisierung fördert. Sie ist gefährlich, weil sie nicht darstellt, was sich in der Wissenschaft abspielt. Wissenschaft arbeitet immer wieder mit Emotionen, etwa mit Leidenschaft oder Hoffnung. Wenn man jene, die Emotionen zeigen, als nicht-wissenschaftlich und nicht-faktisch abtut, schließt man sie aus der Diskussion aus. Das waren meine Gedanken vor der Pandemie, jetzt hat sich das noch mehr zugespitzt.

Die Pandemie soll in Österreich nun aufgearbeitet werden, es gibt auch mehrere Projekte zu Wissenschaftskommunikation und -skepsis. Kann Ihre Forschung da etwas beitragen?

Durnova: Vielleicht. Ich bin an diesen Projekten nicht beteiligt, arbeite aber gerade an einem FWF-Projekt, das „Selbstbestimmung in der liberalen Demokratie“ heißt. Dabei schauen wir uns Expertenwissen auf dem Gebiet der Frauengesundheit an. Es ist sehr spannend, wie dieses Wissen zustande kommt. Beispiel Geburt: Das psychosoziale Wohlbefinden von Frauen bei der Geburt ist mittlerweile offiziell von der Weltgesundheitsorganisation in ihre Expertise aufgenommen worden. Wir sehen aber auch, dass es im alltäglichen Betrieb oft nicht als Expertise eingestuft wird, und zwar mit dem Argument, dass das „ja doch nur emotional“ sei. D. h., die Gegenüberstellung „Fakt versus Emotion“ spielt sich nicht nur in großen Debatten ab, sondern kann auch Teil einer Mikrodebatte sein. Fragen wie: Wie gestalten wir Richtlinien für die Geburt so, dass sie auch das psychosoziale Wohlbefinden von Frauen mitbedenken?

Zurück zur Makrodebatte, also z. B. wie man in einer Gesellschaft Wissenschaft kommunizieren und Skepsis bekämpfen sollte: Lassen sich da Schlüsse ziehen?

Durnova: Sicher. Denn so sehr spätmodernen Gesellschaften emotionalisiert sind, so wenig haben sie noch einen Modus gefunden haben, wie sie Emotionen in ihre Wissensproduktion eingliedern. Das sehen wir bei der Pandemieaufarbeitung, bei der Impfdebatte und bei jeglicher polarisierenden Debatte, wo wir nicht damit umgehen können, dass ein Expertenwissen auch Emotionen beinhalten kann und in manchen Fällen sogar muss.

In ihrem Selbstverständnis bestreiten das oft die Experten und Expertinnen …

Durnova: Ich glaube, sie bestreiten das, weil Emotionen dafür bekannt sind, dass sie chaotisch, komplex und unwissenschaftlich sind. Dabei haben wir mittlerweile wissenschaftliche Instrumente, die zeigen, dass wir ohne Emotionen nicht auskommen. Die Aussage „Du bist emotional“ hat nichts mit unserem Gehirn und unseren Nerven zu tun, sondern ist die Einstufung von einem Tun als etwas, das „jetzt nicht hierher passt, weil es nicht rational ist“. Das heißt, wir wissen, dass wir ohne Emotionen nicht auskommen, auch wissenschaftlich. Aber wir tun uns schwer damit, die Emotionen zu identifizieren und aufzugreifen. Wir haben den Eindruck, das kostet zu viel Zeit, weil wir generell mit Ambivalenz und mit Komplexität nicht so gut umgehen können wie mit einfachen linearen Vorgängen.

Aber es wäre wünschenswert, sowohl auf dieser Mikroebene als auch in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang?

Durnova: Nicht nur wünschenswert, sondern tatsächlich notwendig – um die Probleme, die auf uns zukommen, bewältigen zu können.