Porträtfoto von Andreas Kranebitter, neuer Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes
APA/US HOLOCAUST MEMORIAL MUSEUM/JOEL MASON-GAINES
APA/US HOLOCAUST MEMORIAL MUSEUM/JOEL MASON-GAINES
Andreas Kranebitter

Neuer DÖW-Leiter über Forschungsschwerpunkte

Am 1. April übernimmt Andreas Kranebitter die wissenschaftliche Leitung des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW). Zum Amtsantritt spricht er im Ö1-Interview über die künftigen Forschungsschwerpunkte wie migrantisch geprägten Rechtsextremismus und „das Rechtsextremismusproblem“ der FPÖ.

Bei der Erforschung und Einordnung der österreichischen Zeitgeschichte spielt das 1963 gegründete Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) eine zentrale Rolle – gegründet wurden es von ehemaligen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern gegen das Nazi-Regime, von Verfolgten und von gesellschaftlich engagierten Wissenschaftlern.

Zuletzt hat die türkis-grüne Regierung dem DÖW mehr Forschungsmittel zur Verfügung gestellt, und mit Aprilbeginn hat das DÖW mit dem Soziologen und Politologen Andreas Kranebitter einen neuen wissenschaftlichen Leiter. Er war zuvor an den Universitäten in Graz und Wien tätig und hat zuletzt im United States Holocaust Memorial Museum in Washington geforscht.

Herr Kranebitter, als das DÖW vor 60 Jahren gegründet wurde, war die Zeitgeschichte an den Universitäten de facto nicht verankert, Widerstandskämpfer und Desserteure galten als Verräter, Österreich sah sich als Opfer, nicht als Täter. Das hat sich ja mittlerweile geändert. Warum braucht es das DÖW denn heute noch?

Andreas Kranebitter: Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes ist für mich ein Ort, der für sehr Vieles steht. Es ist ein Ort, der das kulturelle Erbe des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und gegen die Zeit zwischen 1934 und 1938 dokumentiert und bewahrt. Es ist eine Institution, die wissenschaftliche Standards gesetzt hat. Das Wissen in den nachfolgenden Generationen sinkt, gleichzeitig ist aber die Forschung sehr ausdifferenziert. Es braucht also einen Überblick, und den kann eine Institution wie das Dokumentationsarchiv liefern. Das DÖW ist zudem – und das ist mir sehr wichtig – eine Art Seismograf für die Gesellschaft, wenn es um demokratiepolitisch bedenkliche, rechtsextreme Tendenzen in Österreich geht. Es freut mich sehr, dass ich der wissenschaftliche Leiter einer Institution sein kann, die viel Geschichte, aber auch viel Zukunft hat.

Porträtfoto von Andreas Kranebitter, neuer Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes
APA/US HOLOCAUST MEMORIAL MUSEUM/JOEL MASON-GAINES

Das DÖW will ja „Erinnern. Erforschen. Erkennen“. Bleiben wir zunächst beim Erkennen. Was sind denn aktuell aus Ihrer Sicht wesentliche Themenfelder und Herausforderungen?

Kranebitter: Was wir aktuell sehen, ist – sowohl auf der Straße als auch im Onlinebereich – ein unglaubliches Anwachsen von Artikulationen rechtsextremer Einstellungen. Wir sehen aber auch, dass immer mehr Waffenlager ausgehoben werden und da reden wir von Waffen, die teilweise schweres Kriegsgerät sind. Das hat es so vor 15, 20 Jahren noch nicht gegeben. Und wir reden jetzt auch davon, dass durch die Pandemie noch ein Angebot an Verschwörungstheorien dazu gekommen ist, das noch einmal brandbeschleunigend wirkt.

Kommen wir zum Erforschen: Die türkis-grüne Bundesregierung hat dem DÖW zuletzt mehr Forschungsmittel zur Verfügung gestellt; konkretisiert wurde da in einer Aussendung des Wissenschaftsministeriums aber einzig ein Feld: der mehrsprachige, migrantisch geprägte Rechtsextremismus. Ist das DER weiße Fleck in der Forschung oder welche nennen Sie?

Kranebitter: Ich glaube schon, dass das ein Feld ist, das man beobachten muss. Wir haben jetzt Kolleginnen und Kollegen, die einerseits den Rechtsextremismus der Grauen Wölfe in der türkischen Community beobachten und andererseits auch den grenzübergreifenden Rechtsextremismus. Ergänzungen oder Erweiterungen sind natürlich wünschenswert. Ich glaube, dass es zudem in der historischen Forschung Themen gibt, die noch zu bearbeiten sind. Es ist etwa lange Zeit nicht über die Opfer der kriminalpolizeilichen Verfolgung geredet worden, die als „asozial“ stigmatisiert und als kriminell verfolgt worden sind. Da sehe ich sowohl im Forschungsbereich als auch im erinnerungspolitischen Bereich Nachholbedarf.

Im türkis-grünen Koalitionsabkommen ist ein Rechtsextremismusbericht angekündigt. Diesen soll das DÖW übernehmen, heißt es. Was kann denn so ein Bericht leisten?

Kranebitter: Ich glaube, dass es tendenziell immer wichtiger wird, dieses unüberschaubare Feld zu überblicken. Und dafür braucht es eine Institution, die das auch nicht nur seit Jahrzehnten schon macht, sondern auch einordnen kann.

Probieren wir das doch gleich an einem aktuellen Beispiel aus. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, hat die FPÖ Niederösterreich scharf kritisiert und als „Kellernazis“ bezeichnet. Was ist denn ihr Befund über die FPÖ Niederösterreich?

Kranebitter: Das Wort „Kellernazis“ ist für mich eher ein polemischer Ausdruck in einer politischen Debatte und kein wissenschaftlicher, analytischer Begriff. Allerdings thematisiert er genau diese Art von codiertem Sprechen, das eben im Keller anders lautet als an der Oberfläche. Ich beobachte mit einiger Verwunderung und Sorge, dass es in der FPÖ Niederösterreich Themen gibt, die den Kern der Arbeit des Dokumentationsarchivs betreffen. Wenn etwa Franz Jägerstätter als Verräter bezeichnet wird, weil er sich aus Gründen des katholischen Gewissens dem Dienst in der Wehrmacht entzogen hat, dann sollte man diese Diffamierung ernst nehmen und nicht ignorieren.

Ihr Vorvorvorgänger, nämlich Wolfgang Neugebauer, hat 2002 unter der damaligen schwarz-blauen Regierung die FPÖ unter Jörg Haider als rechtsextrem eingestuft. Wie sehen Sie denn heute die FPÖ unter Herbert Kickl im Bund?

Kranebitter: Ich glaube, es ist ganz klar, dass die FPÖ in ihrem Kern – und eben nicht am Rand – ein Rechtsextremismusproblem hat. Das beginnt, wenn man ins Parteiprogramm schaut. Bei der Wortwahl, die natürlich nicht zufällig ist. Wenn der Begriff „Volksgemeinschaft“ in einem Parteiprogramm steht, dann ist dieser Begriff nicht nur historisch belastet, sondern ein Kernideologem des Nationalsozialismus. Unter diesem Begriff der Volksgemeinschaft wurden Inklusionsversprechen abgegeben und gleichzeitig der radikale soziale Ausschluss von Allem betrieben, was nicht in die Volksgemeinschaft gehört hätte. Dass sich die FPÖ historisch entwickelt hat, ist klar. Es gab solche und solche Phasen. Was wir aber jetzt sehen, ist, dass Distanzierungsbemühungen nicht mehr vorkommen. Sondern dass man nun am rechten Rand so weit offen ist, dass man gemeinsam mit Identitären auf Demonstrationen auftritt oder das auch teilweise personell verschmilzt. Und das ist durchaus ein Problem.

Niederösterreich war Thema. Wie bewerten Sie denn da die Rolle der ÖVP? Einerseits geht man die Koalition mit der FPÖ in Niederösterreich ein, andererseits ist man erinnerungspolitisch doch sehr aktiv. Geht das aus Ihrer Sicht zusammen?

Kranebitter: Ich sehe von ÖVP-Seite schon ein ernstzunehmendes Interesse an erinnerungspolitischen Themen. Ich bin persönlich allerdings auch davon überrascht, wie stark man auf der Landesebene, und vielleicht auch auf der Bundesebene, dazu bereit ist, über Dinge hinweg zu sehen, über die man eigentlich nicht hinwegsehen sollte.

Bleiben wir noch beim Erinnern. Das DÖW setzte lange und setzt noch auf Gesprächsreihen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Die werden ja immer weniger. Was soll und kann denn darauffolgen?

Kranebitter: Das ist sicherlich eine der Baustellen, wo wir mehr Augenmerk drauflegen müssen. Es passiert irrsinnig viel im Dokumentationsarchiv an Workshops, an Arbeit mit Schulklassen. Ich glaube, das braucht künftig mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Abschließend ein Blick in die Zukunft: Welche Ziele haben Sie sich denn als neuer wissenschaftlicher Leiter des DÖW gesetzt?

Kranebitter: Ich glaube, dass das Dokumentationsarchiv ein Ort ist, der sehr viel an Wissen bündelt. Das heißt, wir sollten wieder stärker in die Richtung gehen, Überblickswerke zu schaffen und zu publizieren. Da fällt mir als ein Beispiel ein: Es gibt noch kein Überblickswerk über den Holocaust in Österreich, das vermittlungstechnisch gut durchdacht ist. Ich glaube, dass wir das sehr gerne angehen werden – auch mit Partnerinnen und Partnern der anderen Institutionen.