Obwohl Schriftstellerinnen und Schriftsteller Briefe, Interviews, Manuskripte, Veröffentlichungen und Bücher schreiben, die über ihr Leben und das Wachstum ihrer Arbeit sprechen: Kann man dem vertrauen, was sie über sich selbst sagen? Und was passiert, wenn eine Autorin, ein Autor öffentlich das eine sagt und privat etwas ganz anderes? Liegt das Leben der Schriftstellerin nur in der Arbeit, oder ist ihre Arbeit ein Spiegel, der ihr Leben widerspiegelt? Und schließlich: Was sind die Fallstricke, wenn man das Werk verwendet, um das Leben zu lesen? Und wann geht der Biograf zu weit, wenn er in das Leben eintaucht, um das Werk zu beleuchten?
Ingeborg Bachmann, die kultigste österreichische Autorin ihrer Generation, war eine Meisterin darin, ihr Privatleben mit einer Mystik zu umgeben und gleichzeitig eine intime, emotional intensive Stimme zu schmieden, die kraftvoll und nachhaltig zu vielen Leserinnen und Lesern über Generationen hinweg sprach.
Ein wechselhaftes Leben
Doch in den Jahren seit ihrem tragischen frühen Tod hat sich das breitere Verständnis von Bachmanns Leben und Werk erheblich verändert. Jetzt wissen wir von der leidenschaftlichen frühen Romanze mit dem Lyriker Paul Celan und wie diese beide geprägt hat.
In ähnlicher Weise offenbart die kürzlich veröffentlichte Korrespondenz mit dem Schriftsteller Max Frisch eine viel kompliziertere Beziehung als bisher angenommen: Anstatt das unverblümte Monster zu sein, das Bachmanns Leben im Alleingang „zerstörte“, indem er ein geheimes Tagebuch über dieses führte, das sie später entdeckte, enthüllen Bachmanns eigene Untreue und ständige Reisen während der vier gemeinsamen Jahre nun ihre unglückselige Verbindung fast von Anfang an.

Hinzu kommt die Tatsache, dass Bachmann nie offen über die Mitgliedschaft ihres Vaters in der NSDAP gesprochen hat, obwohl spätere Biografen dies deutlich gemacht haben, und eine paradoxere Person und Persönlichkeit beginnt sich abzuzeichnen.
Wer ist Bachmann?
Statt wer Bachmann war, stellt sich die Frage, wer Bachmann heute ist. Diese Frage wird durch die Tatsache verschärft, dass sich ihr Profil noch zu ihren Lebzeiten wandelte: Von der jugendlichen Dichterin, die Anfang der 1950er Jahre berühmt wurde, über die forschende Denkerin der Frankfurter Vorlesungen bis hin zur Autorin von Kurzgeschichten Anfang der 1960er Jahre und schließlich zur gefeierten Romanautorin der frühen 1970er Jahre. Bachmann war nie nur eine Art von Schriftstellerin, und sie entzieht sich leicht jedem Etikett, das ihr auferlegt wird.

Über den Autor
Peter Filkins ist Richard B. Fisher Professor of Literature und Visiting Professor of Literature am Bard College und aktuell Senior Fellow am IFK in Wien. Filkins arbeitet außerdem an einer Biografie über Ingeborg Bachmann, die von der Yale University Press veröffentlicht wird.
Veranstaltung
Filkins hält am 24.4.23, 18.15 Uhr, den Vortrag „Translating the Archive, Translating the Life“, dieser findet am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/Kunstuni Linz in Wien in hybrider Form statt.
Auch als Privatperson bleibt sie ein Rätsel. Sie war immer geschmackvoll gekleidet und frisiert und liebte Glamour und Chic, obwohl sie das Gefühl hatte, dass die Lasten und Erwartungen, die die Gesellschaft Frauen auferlegt, sie zu nicht denkenden Objekten machen, wenn nicht sogar sie ersticken oder ermorden würden. Immer wenn Journalistinnen und Journalisten über ihren Auftritt bei Lesungen und Opernaufführungen schrieben, fühlte sie sich dagegen verletzt, wie private Briefe in ihrem Archiv belegen.
Verschiedene Zugänge zu Leben und Werk
Was die Frage nach dem Archiv selbst aufwirft. Knapp vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, Jahre bevor sie veröffentlicht oder überhaupt bekannt wurde, gesteht sie ihrem Liebhaber, dem Schriftsteller Hans Weigel, dass sie „Angst“ habe, dass jemand „einmal den Nachlass zusammensuchen und diese Briefe finden“ würde. Und dies gelesen von dem Biografen, der genau den Nachlass recherchiert, in dem genau derselbe Brief erscheint! Solche Momente sind selten und Augenblicke, auf die jede Biografin, jeder Biograf hofft.
Hätte Bachmann gewollt, dass eine Biografie über sie geschrieben wird, und inwieweit hätte sie an ihrer Entstehung mitgewirkt? Angesichts der Tatsache, dass sie leider nie die Gelegenheit hatte, ihr Archiv formal zu organisieren, was hätte sie bei der Zusammenstellung möglicherweise eliminieren können? Und wenn sie tatsächlich unter „Nachlassangst“ litt, warum wurden so viele Briefe gerettet, so viele Ephemera? Bachmann hat zwar ihre Privatsphäre streng gewahrt, aber sie hat auch darauf geachtet, auf dem Weg zum Eingang ihres Privatlebens eine Spur von Krümeln zu hinterlassen, so dass man im Literaturmuseum Wien aktuell eine anschauliche Zusammenfassung ihres Lebens und Werks finden kann: „Ingeborg Bachmann: Eine Hommage“.
Am Ende kann eine Biografie nur versuchen, eine Geschichte zu erzählen, die informiert und gründlich recherchiert ist, von Fakten angetrieben wird, auf Paradoxien und blinde Flecken achtet und nach einem gerechten Verständnis ihres Subjekts strebt. Bachmanns Leben und Werk machen nichts davon einfach oder offensichtlich, aber warum sollten sie? Geniale Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind oft ambivalent und unberechenbar, wenn es um sie selbst als Subjekt geht, denn sie fühlen sich in den Feinheiten der Sprache und Metaphern viel besser zu Hause, wenn es darum geht, die Nuancen des Lebens wiederzugeben.
Der irische Dichter W.B. Yeats schrieb, dass man das Leben perfektionieren kann oder die Kunst, nicht beides. Das Dilemma und Ziel des Biografen besteht jedoch darin, auf beides zu zielen.