Die Deklaration von Gegenhochschulen gehört seit vielen Jahrzehnten zum Repertoire universitäts- und wissenschaftskritischer Handlungsformen. Bekannt wurde die Praxis vor allem durch die Studierendenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Seit Mitte der 1960er Jahre entstanden zunächst in den USA im Umfeld der Proteste für „freie Rede“ und gegen den Vietnamkrieg zahlreiche „freie“ Hochschulen. Spätestens die transnationalen Protestereignisse von 1967/1968 machten die Erklärung „freier“, „kritischer“, „politischer“ oder „autonomer“ Universitäten dann auch in vielen westeuropäischen Staaten zur gängigen Praxis.

Über die Autorin
Susanne Schregel ist Geschichtswissenschaftlerin und derzeit Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. Ihr Forschungsprojekt zur Geschichte der Gegenhochschule wird ab September 2023 von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert.
Indem sie eine „andere“ Hochschule neben eine „reguläre“ Hochschule setzten, versuchten Studierende, Hochschulmitarbeiter*innen, Künstler*innen und Akteur*innen sozialer Bewegungen Ansätze zu erproben, wie Lehren und Lernen partizipativer, kreativer, „interdisziplinärer" und politischer zu gestalten wäre. Zugleich griffen sie mit ihren gegeninstitutionellen Provokationen die bestehenden wissenschaftlichen Einrichtungen als undemokratisch, als Kreativität erdrückend, als atomistisch-vereinzelnd oder gesellschaftlich nicht „relevant“ genug an.
Blütezeiten der Gegenhochschulen
Im Laufe der 1970er und 1980er Jahre wuchs mit dem Aufkommen der sogenannten „neuen“ sozialen Bewegungen und der Ausbildung eines „alternativen Milieus“ die inhaltliche Bandbreite solcher Projekte noch weiter. So fuhren nun etwa nach einem dänischen Modell die Busse der „Reisenden Hochschule“ in Staaten der „Dritten Welt“, um sich „intensiv und kritisch mit den Problemen der Bevölkerung und der politischen Situation im Land auseinanderzusetzen“.
Organisatorinnen von „Frauen(sommer)universitäten“ suchten eine „autonome Gegenöffentlichkeit“; sie rangen – wie Gisela Bock als eine der Initiatorinnen der Berliner Frauenuni erklärte – um eine „Wissenschaft, die Frauenmacht und die Suche nach unserer Identität zum Maßstab nimmt.“ Temporäre „Volksuniversitäten“ sollten in Westdeutschland den Bildungszugang weiter demokratisieren, eine „Walduniversität“ im Umfeld der Startbahn-West-Proteste Themen wie Gewaltfreiheit und ökologische Fragen vertiefen.

Auch an den Kunsthochschulen und als Kunstprojekte entstanden in den 1970er und 1980er Jahren Entwürfe, die auf die eine oder andere Weise gegen die „regulären“ Institutionen gesetzt waren und diese zugleich reflektierten. Die „Freie Internationale Universität für Kreativität und interdisziplinäre Forschung“ (F.I.U) etwa, ein vielgestaltiges und internationales Projekt rund um Joseph Beuys, war als Ort des „Forschens, Arbeitens und Kommunizierens“ konzipiert. In der – mal an einem konkreten Ort, mal ins Überall gesetzten – „Free International University“ könnten, so hoffte der Künstler, „alle die Gruppen und Keimzellen in unserer Gesellschaft“ zusammenfinden, „zu denen Menschen sich zusammengeschlossen haben, um gemeinsam die Fragen der sozialen Zukunft zu durchdenken.“

Eingebunden waren solche Projekte in eine breitere Strömung „alternativer“ Bildungsprojekte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Zugleich überschnitten sie sich mit einer Vielzahl ähnlicher Aktionsformen, die einen Bildungs- und Wissenschaftsbezug entfalteten. Hierzu gehörten etwa „Teach-ins“, Hörsaalbesetzungen, „Lernfeste“, „autonome“ Seminare und andere selbstorganisierte Lehrangebote.
Worum es ging
Die Gegenstandsfelder, die gegenuniversitäre Bildungsangebote adressierten, variierten mit den Fragen und Problemen ihres jeweiligen Entstehungskontextes. Seminare griffen allgemeinere Aspekte der Demokratisierung der Hochschulen und ihrer sozialen Öffnung auf; sie behandelten „antiimperialistische“, kapitalismuskritische, ökologische, feministische und queere Themen ebenso wie Kunst, Musik und Fragen der Lebensformen und der Selbstveränderung. Das Kunterbunt der Programmhefte und „alternativen Vorlesungsverzeichnisse“ verband jedoch der Wille, solche Themen zu stärken, die Aktivist*innen in den regulären Hochschulen vermissten.
Vortrag
Susanne Schregel hält am 8. Mai 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Gegenuniversitäten. Variationsbreiten eines Phänomens“; dieser findet hybrid statt.
Auch die Lehr- und Lernformate selbst waren heiß diskutiert. Die Angebote der Gegenunis sollten autoritätsskeptische, antihierarchische, selbstorganisierte oder spontane Formen des Lehrens und Lernens erproben; sie wollten Lehren und Lernen sozial öffnen und teils auch die Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden aktiv durchbrechen. So ließen denn auch Gründungsmanifeste von Gegenhochschulen an Prüfungen und Leistungskontrollen oftmals kein gutes Haar. Zugangsbeschränkungen wurden ebenso aktiv entmutigt. Denn „an den Pforten einer Volksuniversität“ – so der Friedensforscher und Initiator der „Walduniversität“ Egbert Jahn 1982 – gebe es „keine Prüfungen des Vorwissens und der Gesinnung“.
Die Gegenhochschule – ein Erfolgsmodell?
Inwieweit die Gegenhochschulen ihre hochgesteckten Ziele erreichten, lässt sich kaum pauschal beantworten. Viele Projekte kämpften mit organisatorischen Problemen und inneren Streitigkeiten und gingen nach kurzer Zeit wieder ein. Dessen ungeachtet schufen unterschiedliche Gruppen von Akteur*innen mit ihnen Orte, an denen sie die Auseinandersetzung um Wissenschaft und ihre Beziehung zur Gesellschaft in wechselnden Problemkonstellationen, dabei praktisch und öffentlichkeitswirksam führen konnten. In den angemieteten Seminarräumen, besetzten Häusern oder anderen Versammlungsstätten der Gegenhochschulen vermochten sie Antworten auf die Frage zu suchen, wie politische Auseinandersetzungen auch durch Bildungsformate zu führen wären. Als Impulse präfigurativer Politik konnten Gegenhochschulen schließlich auch manche Veränderungen zumindest situativ vorwegnehmen, lebensweltlich erfahrbar und nicht selten auch biografisch wirksam machen.
Nicht zufällig bringen daher soziale Bewegungen und Initiativen nach wie vor neue Variationen der Gegen(hoch)schule hervor, um Dispute um die Art und Weise anzustoßen, was und wie wir lernen und lehren wollen, welche Wissenschaft wir anstreben, und welche Rolle akademische Institutionen dabei bekommen sollen. Auch Kunstprojekte greifen bis heute auf verschiedene Spielarten gegenuniversitärer Formate zurück.

Zugleich zeugen die vergleichsweise jungen rechten Gegenuniversitäten und „Anti-Woke“-Hochschulen davon, wie neue Interpretationen und Umgangsweisen mit den Hochschulen aufkamen, die sich auch als „Protest gegen akademische Denkverbote“ legitimierten.
Eine besondere Ironie der Gegenhochschulen liegt vielleicht darin, dass sie nicht zuletzt dazu beitrugen, das Bild einer „etablierten“ Hochschule zu festigen, die sich gesellschaftlichen Anforderungen verschließt und – mal mehr, mal weniger – reformunfähig verbleibt. Dabei wäre die längere Geschichte solcher Formate gerade ein Hinweis darauf, dass sich wissenschaftliche Akteur*innen – auf allen Qualifikationsstufen, und in der Kommunikation mit sozialen Bewegungen und künstlerischer Praxis – immer wieder neu äußerst sensibel, mitunter auch mit überschießenden Energien darum bemühten, die regulären Hochschulen und die von ihnen vertretenen Interpretationen von Wissenschaft umzugestalten. Insofern ist die Geschichte der Hochschule mit gleichem Recht Teil der Geschichte der Gegenhochschule wie umgekehrt.