Verlaufskurve von Krankheitsfällen
Getty Images/Teradat Santivivut
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Pandemie

Prognosemodelle auf dem Prüfstand

Ohne computergestützte Modelle zum Infektionsgeschehen hätte Österreich die Coronavirus-Pandemie im Blindflug absolviert. Science.ORF.at hat in der Fachgemeinde nachgefragt: Was lief bei den Prognosen gut, was schlecht – und was folgt daraus?

Letzten Donnerstag startete die Bundesregierung ihre Aufarbeitung der Pandemie. Auch, wie es heißt, um der Polarisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Aufarbeitungen und Bewertungen des eigenen Tuns gehören in der Wissenschaft freilich zum täglich Brot, das österreichische Prognosekonsortium – verantwortlich für die Vorausschau auf das zu erwartende Infektionsgeschehen im Lande – hat etwa im Dezember 2022 eine Zusammenschau der gesammelten Erfahrungen veröffentlicht. Das Fazit: Es gibt nicht das beste Modell, vielmehr lassen sich die verlässlichsten Ergebnisse mit einer Kombination unterschiedlicher Vorhersagemodelle erzielen.

Eine Studie unter der Führung von Nicholas Reich von der University of Massachusetts kam jüngst zu einem ganz ähnlichen Schluss. Je nach Fragestellung ist einmal das eine, einmal das andere Modell geeignet, am besten fahre man auf die Dauer mit sogenannten „Ensemble Forecasts“.

Kraut und Rüben als Methode

So eine Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze ist auch von den in der Medizin üblichen Metastudien bekannt, der Unterschied ist allerdings: Bei Metastudien werden methodisch sehr ähnliche Einzeluntersuchungen kombiniert, „bei den Ensemble Forecasts wirft man quasi Kraut und Rüben zusammen. Die Einzelstudien müssen bloß den gleichen Output haben“, sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek von der MedUni Wien.

Dass dieser Kraut-und-Rüben-Ansatz dennoch funktioniert und sogar allen anderen überlegen ist, dürfte auch damit zu tun haben, dass sich im Feld der Pandemieprognosen unüberschaubare Komplikationen ergeben können. Eine davon ist vom Wetterbericht bekannt. Je weiter man in die Zukunft blickt, desto größer werden die Unsicherheiten – technisch gesprochen: desto größer werden die Fehlerbalken, bis man am Ende alles bzw. gar nichts mehr vorhersagen kann.

Bei den epidemiologischen Prognosemodellen liegt die Grenze etwa bei einer Woche. Was darüber hinausgeht, ist – systemimmanent – nicht mehr verlässlich. Deswegen unterscheiden Fachleute auch strikt zwischen Vorhersagen und Szenarien. Klimek drückt das so aus: „Frei nach Musil: Bei ersteren geht es um wirkliche Möglichkeiten, bei Szenarien um mögliche Wirklichkeiten.“

„Kommunikation war schwierig“

Berechnungen, die sich über Wochen und Monate erstrecken, sind also ausschließlich dazu da, um Zusammenhänge herauszuarbeiten, etwa, wie sich eine bestimmte Impfquote auf die Intensivstationen auswirkt. Als konkrete Vorhersage waren diese Analysen nie gedacht, betont Sebastien Funk von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Und das hätten viele missverstanden.

Funk zufolge ist das der Punkt, wo Modellierer und Epidemiologinnen in den letzten drei Jahren die größten Probleme hatten. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit habe auf nationaler wie auch internationaler Ebene gut geklappt, weitgehend reibungsfrei sei auch der Austausch mit der Politik abgelaufen. Doch im Kontakt zur Öffentlichkeit sei manches falsch rübergekommen.

„Bei der Kommunikation und Interpretation von Modellrechnungen hatten wir Schwierigkeiten“, resümiert Funk. Rückblickend, sagt er, wäre es wohl besser gewesen, die Infektionskurven mit einem Beipackzettel auszustatten. Mit dem Wortlaut: „Dies ist keine Vorhersage, sondern eine Illustration oder ein Werkzeug, das nur unter bestimmten Annahmen gilt.“

Ansteckungen: Die soziale Dimension

Eine weitere Einsicht, die sich in den letzten drei Jahren herauskristallisiert hat: Im Infektionsgeschehen können Details den entscheidenden Unterschied machen. Und die gilt es zu berücksichtigen. Was das bedeutet, zeigt eine Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Virologen und Bioinformatikers Trevor Bedford. Er und sein Team hatten für ihre Untersuchung das Infektionsgeschehen im King County, ein Landkreis im US-Bundesstaat Washington, unter die Lupe genommen.

Das County zeichnet sich durch eine markante Zweiteilung aus, der Norden ist wohlhabend, der Süden arm. Ansonsten waren im Beobachtungszeitraum alle Faktoren ident: gleiche Virusvarianten, gleiche Corona-Regeln, gleiche Klimaverhältnisse. Doch die beiden Landkreise drifteten völlig auseinander, wie Bedford in seinem Bericht schreibt: Die Infektionszahlen waren im Süden deutlich höher.

Frau mit Maske in der U-Bahn schaut auf Handy
AFP/ALAIN JOCARD

Warum das so ist, können Bedford und sein Team nicht mit Sicherheit sagen. Es könnte an der Zahl der Haushaltsmitglieder liegen, am Zugang zu Gesundheitseinrichtungen oder auch am Verhalten. Fakt ist, dass Wohlstand und Armut in das Infektionsgeschehen hineinspielen – Prognosemodelle müssen also, wenn sie in Feinauflösung funktionieren sollen, bis zu einem gewissen Grad auch die sozialen Verhältnisse abbilden. Mit der Virologie allein ist es jedenfalls nicht getan.

Faktor Verhalten

Was die mit der Zeit wachsenden Fehlerbalken angeht, sind Infektions- und Wetterprognosen einander ähnlich, der Vergleich hat aber auch seine Grenzen. Dem Wetter ist es nämlich relativ egal, ob es im Radio oder TV vorhergesagt wurde oder nicht. Bei Prognosemodellen indes kann es durchaus vorkommen, dass sie ihr Untersuchungsobjekt beeinflussen – und somit ihre eigenen Modellannahmen. Dann etwa, wenn Menschen aufgrund von veröffentlichten Berichten ihr Verhalten ändern, also zum Beispiel aus Angst vor einer Ansteckung vorsichtiger werden.

Diesen Effekt in die Modelle einzupreisen, habe sich als „tricky“ erwiesen, sagt Herwig Ostermann. Der Geschäftsführer von Gesundheit Österreich(GÖG) betrachtet die Infektionswelle im Oktober 2020 als die größte Hürde im Verlauf der letzten drei Jahre, „in dieser Phase gab es Abweichungen von den gerechneten Modellen. In so einer Situation setzt man sich hin, rechnet die Modelle rückwärts und stellt die Parameter neu ein. Danach waren wir wieder genau an den tatsächlichen hohen Werten – leider, muss man sagen.“

Gesucht: Verknüpfbare Daten

Mittlerweile hat die WHO den internationalen Gesundheitsnotstand aufgehoben, die Pandemie wurde nun also auch von oberster Stelle als für beendet erklärt. Nun gelte es die Lehren aus der Krise zu ziehen, sagt Ostermann. Das heißt konkret: „Wir brauchen für ansteckende Krankheiten so etwas wie eine Surveillance, ein Überwachungssystem.“ Das sei mit Abwassermonitoring und den Sentinel-Praxen niedergelassener Ärzte und Ärztinnen im Prinzip zu machen.

Für Klimek lautet eine zentrale Einsicht der letzten drei Jahre: „Durch die Dringlichkeit der Pandemie ist vielen bewusst geworden, wie wichtig es ist qualitativ hinreichendes Datenmaterial für die Forschung zu haben.“ An den Daten selbst mangle es nicht, betont der Komplexitätsforscher. „Aber sie liegen verstreut in Silos herum. Das Um und Auf ist ihre Verknüpfbarkeit. Das gilt nicht exklusiv für Corona, sondern für alle Fragen der Gesundheitsversorgung.“ Zwar wurde in Österreich ein neues Mikrodatenzentrum bei der Statistik Austria ins Leben gerufen – doch bislang hat kaum ein Ministerium die Daten auch freigegeben.