„Hallo, Ihr Buben und Ihr Mädeln, wir werden basteln!“ Unter dieser Überschrift kündigt Oskar Grissemann am 4. Oktober 1929 in Radio Wien, der Wochenschrift der Österreichischen Radio-Verkehrs AG (RAVAG), die Einführung der „Bastelstunde“ an, die fortan wöchentlich in Radio Wien gesendet wurde.
Zwar wurde der Begriff „Basteln“ schon im 19. Jahrhundert genutzt, um eine kleine, oft als unnütz und unprofessionell empfundene Tätigkeit – eine „kleine Handarbeit“ oder eine „saumselige kleine Hantierung“ – zu bezeichnen. Als eine Kulturtechnik etablierte das Basteln sich jedoch erst ab den 1920er Jahren in weiten Teilen der Gesellschaft. Eine zentrale Rolle spielte hierfür die Einrichtung des öffentlichen Rundfunks, der in Wien am 1. Oktober 1924 offiziell auf Sendung ging.

Radiobasteln vs. Spielzeugbasteln
Denn das Radio, das in der Anschaffung oft teuer war, erwies sich schnell als ausgesprochenes „Bastelmedium“. Nicht umsonst vermitteln zahlreiche „Radio-Bastelbücher“, wie ein Radio sich mit einiger Versiertheit selbst anfertigen und verbessern lässt.
Auch die zeitgenössische Erzählliteratur bezeugt die Nähe des Radios zum Basteln und kehrt vor allem die hierdurch entstehenden privaten Probleme hervor: Während die Ehefrau abends die im Radio ausgestrahlten Konzerte hören möchte, verdirbt ihr der Ehemann das Vergnügen, weil er fortwährend am Radio herumbastelt, so etwa stellt die bekannte Berliner Schriftstellerin Else Ury diese Probleme 1925 in einer etwas schematischen, für die zeitgenössische Literatur aber typischen „Radioszene“ dar.

Von diesem Radiobasteln, das in der Zeitschrift von Radio Wien wöchentlich in mehreren Rubriken behandelt wird, weicht das in der „Bastelstunde“ betriebene Spielzeugbasteln ab. Als „Bastelonkel“ richtete Grissemann sich nun nämlich nicht an „Männer“, die Radios basteln oder zumindest an ihnen herumbasteln wollen, sondern an ein Publikum aus „Buben“ und „Mädeln“.

Über den Autor
Michael Bies ist Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien: „Das Handwerk der Literatur. Eine Geschichte der Moderne, 1775–1950“ (Göttingen, 2022).
Derzeit ist Bies Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.
Eine eigene Welt im Kleinen erschaffen
Diese sollen in der „Bastelstunde“ lernen, „wie man kleine praktische Gebrauchsgegenstände herstellt, wie man kleine Geschenke für Vater und Mutter bastelt, wie man dies und das ausbessert und instandsetzt“. Auf diesem Wege sollen die Kinder auch mit „verschiedensten Werkzeuge[n]“ und „Materialien“ vertraut werden und sich „spielend“ erschließen, was ihnen „später einmal von Nutzen sein“ kann.
Im Sinne einer solchen Schule fürs Leben bringt Grissemann seinem Publikum nun bei, wie es „Plastilinmännchen“, eine „Zündholzschachtel-Stadt“ oder „Das Boudoir einer Puppendame“ bauen und damit eine eigene Welt im Kleinen erschaffen kann. Zur Überprüfung des Gelernten kündigt er am 27. Dezember 1929 zudem ein „Bastelpreisausschreiben“ an, für das Kinder eine eigene Bastelarbeit anfertigen und an die RAVAG senden sollen.
Dieses Preisausschreiben verdeutlicht auch den immensen Erfolg, den die „Bastelstunde“ hatte. Wie die Zeitschrift von Radio Wien dokumentiert, war die Beteiligung am Preisausschreiben so hoch, dass die eingereichten Bastelarbeiten schließlich im Rahmen einer Ausstellung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien präsentiert werden konnten, die zweimal verlängert und in insgesamt vier Wochen von 22.333 Personen besucht wurde.

Basteln heute
Von den ersten Bestimmungen des Bastelns im 19. Jahrhundert haben sich das Radiobasteln wie auch das Spielzeugbasteln weit entfernt. Statt als Refugium eines unnützen, unprofessionellen Zeitvertreibs wird das Basteln ab den 1920er Jahren vor allem als etwas entworfen, das freie Zeit „sinnvoll“ zu verbringen helfen soll.
Während das Radiobasteln oft als eine Tätigkeit dargestellt wird, durch die Männer sich von der Arbeit erholen oder auch Zeit mit ihren Söhnen verbringen können, wird das von Grissemann propagierte Spielzeugbasteln hingegen nicht nur als Vorbereitung auf ein tätiges Erwachsenenleben charakterisiert, sondern in der Zeitschrift von Radio Wien auch unter das Motto gestellt: „Das Kind, das nicht schafft, zerstört.“

Diese Formen des Radiobastelns wie auch des Spielzeugbastelns umgeben uns bis heute. Nur basteln Techniker:innen inzwischen weniger an Radios als vielmehr an Computern und Code, und Kinder nicht nur nach einem vorgegebenen Plan, sondern bereits in Kindergärten auch in einer ergebnisoffenen, kreativen Weise.
Vortrag
Michael Bies hält am 15. Mai 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Basteln. Geschichte einer (vermeintlich) ‚kleinen Tätigkeit‘“; dieser findet hybrid statt.
Potenziell subversive Kulturtechnik
Neben diese Formen tritt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die einflussreiche Theorie der Bricolage, die der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss 1962 formuliert. Mit dieser Theorie wird das Basteln nun zu einer Schlüsselmetapher, um in verschiedensten Lebensbereichen zu beschreiben, was genau wir eigentlich tun, wenn wir etwas tun.
Statt konsequent auf ein einmal gefasstes Ziel zuzugehen, so lautet dann die im Anschluss an Lévi-Strauss gegebene Antwort, begeben wir uns immer wieder auf Umwege, experimentieren mit dem, was uns gerade zur Verfügung steht, und gelangen schließlich zu einem anderen Ziel, als wir es uns vorgestellt hatten.
Kurzum: Wir basteln. Jedoch ist das schon wieder ein anderes Kapitel. In diesem wird das Basteln zu einer potenziell subversiven Kulturtechnik erklärt, ohne die sich die Anforderungen komplexer Gesellschaften nicht bewältigen ließen, und zugleich zum Beginn der Geschichte des Bastelns im 19. Jahrhundert zurückgekehrt – zu all den „kleinen Hantierungen“, die den Alltag ausmachen.