Die fortschreitende Digitalisierung des Alltags macht die Kontaktaufnahme mit anderen Personen um ein Vielfaches einfacher als noch vor einigen Jahrzehnten, gleichzeitig verändert sie aber auch die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren. „Ich habe mich mit meinen Freundinnen noch im Einkaufszentrum oder im Park getroffen, heute sitzen sehr viele Jugendliche aber vor einem der vielen Bildschirme in ihrem Zimmer und sprechen mit ihren Bekanntschaften nur noch in Online-Spielen oder mittels Textnachrichten“, erklärt die US-amerikanische Psychologin Michelle Drouin gegenüber science.ORF.at.
Einsam, trotz umfangreichem Angebot
Drouin setzt sich schon seit Jahren mit den vielfältigen Auswirkungen der digitalen Kommunikation auseinander und sieht darin natürlich auch Vorteile. In ein Gespräch verwickelt zu werden und neue Bekanntschaften zu schließen war noch nie so einfach, Kontakt ist auch mit geografisch weit entfernten Personen problemlos möglich. Die Menschen sollten daher eigentlich so verbunden sein wie noch nie, die Psychologin sieht aber immer öfter auch Entwicklungen in die gegenteilige Richtung – vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Trotz der umfangreichen potenziellen Kontaktmöglichkeiten und der großen Anzahl an Online-Freunden vereinsamen viele von ihnen zusehends.

Expertin zu Gast in Wien
Die Psychologin und Kommunikationsforscherin Michelle Drouin kennt die Vorteile, aber auch die Gefahren, die das digitale Zeitalter mit sich bringt. Am Dienstag wird sie beim 4Gamechanger-Festival in Wien (15.-17. Mai 2023) über einige dieser Aspekte sprechen.
Persönliche Treffen erfüllender
Freundschaften und auch intime Partnerschaften können laut der Psychologin in bestimmten Fällen aber trotzdem auch in Telefonaten und Textnachrichten entstehen – für gelungene zwischenmenschliche Beziehungen seien oft aber auch die kleinen Dinge ausschlaggebend, die in den digitalen Konversationen auf der Strecke bleiben. „Der Körpersprache einer Person wird zum Beispiel sogar bei Videotelefonaten kaum Beachtung geschenkt und auch der direkte Augenkontakt fehlt. Beides verrät bei persönlichen Treffen aber schon nach wenigen Sekunden sehr viel über das Gegenüber“, erklärt Drouin. Ein Treffen von Angesicht zu Angesicht sei demnach fast immer erfüllender für alle Beteiligten als ausschließlich über Bildschirme zu kommunizieren.
Junge Menschen haben weniger Sex
Dass auch intime Liebesbeziehungen unter der fortschreitenden Digitalisierung leiden, belegen mehrere Untersuchungsergebnisse der vergangenen Jahre. In einer US-Studie aus dem Jahr 2018 gaben etwa rund 44 Prozent der 14- bis 17-jährigen Burschen an, im vergangenen Jahre sexuell nicht aktiv gewesen zu sein. Zum Vergleich: Neun Jahre zuvor waren es nur knapp 29 Prozent. Die Zahl der sexuell nicht aktiven Mädchen stieg im gleichen Zeitraum von knapp 50 Prozent auf 74 Prozent.
„Es klingt zwar vielleicht seltsam, jungen Menschen mehr sexuelle Kontakte zu wünschen, aber die Menge an Sex ist unter anderem auch ein allgemeines Merkmal dafür, wie gesund eine Bevölkerung ist“, erklärt Drouin. Im Rückgang der sexuellen Kontakte spiegele sich also auch die kontinuierliche Abnahme der körperlichen und vor allem auch der psychischen Gesundheit der Menschen wider.
Dass gerade junge Menschen weniger Sex haben, habe natürlich mehrere Gründe, stellt Drouin klar – etwa der immer stärkere Fokus einiger Individuen auf die Karriere. Aber: „In vielen Fällen hat das auch eindeutig damit zu tun, dass beim Online-Dating weniger erfüllende Beziehungen entstehen als beim persönlichen Kennenlernen von Angesicht zu Angesicht.“ Die Online-Kommunikation erlaube es oft nicht, tiefgründige Verbindungen zu einer anderen Person aufzubauen und dann auch über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.
Erfüllende Beziehungen mit digitaler Hilfe
Drouin würde sich daher wünschen, dass junge Menschen wieder öfter von Angesicht zu Angesicht kommunizieren. Das zu erreichen, sei aber alles andere als einfach. „Ihnen einfach das Smartphone oder Tablet wegzunehmen, hilft mittlerweile gar nichts mehr“, stellt die Psychologin klar. In manchen Fällen könnte das sogar dazu führen, dass die Kinder und Jugendlichen aus ihrem bisherigen Umfeld ausgeschlossen werden und noch stärker vereinsamen, denn: „Die digitalen Kommunikationswege sind im Alltag der meisten jungen Menschen bereits angekommen und werden auch bleiben – gut wäre aber jedenfalls, sie eher als Hilfsmittel zu nutzen und damit zum Beispiel persönliche Treffen zu vereinbaren“, so Drouin.
Gegen das Senden von Textnachrichten sei also grundsätzlich nichts einzuwenden, sofern die Kinder und Jugendlichen auch hin und wieder auf die Bequemlichkeit der digitalen Kontaktaufnahme verzichten und sich stattdessen persönlich treffen. Vor allem bei Personen, die man im Internet neu kennengelernt hat, seien Gespräche von Angesicht zu Angesicht besonders wichtig – egal, ob es sich um Freunde oder potenzielle Sexualpartner handelt. „Man weiß ja nie, ob sich das Gegenüber im realen Leben wirklich so verhält wie zuhause vor dem Bildschirm“, so Drouin.
Medienbildung unabdingbar
Um den Menschen einen gesunden Umgang mit den digitalen Kommunikationswegen zu ermöglichen, brauche es vor allem auch mehr Medienbildung und Medienkompetenztraining in jungen Jahren. „Es ist einfach unheimlich wichtig, dass schon Kinder lernen, wie sehr man gewissen Inhalten im Internet vertrauen kann und was man von sich selbst zum Beispiel keinesfalls preisgeben sollte“, erklärt Drouin. Die Psychologin sieht dabei aber nicht nur Bildungseinrichtungen in der Pflicht, das Angebot in diesen Bereichen auszubauen.
Eine umfangreiche Medienbildung starte vielmehr schon im Rahmen der Familie – auch, was die Kommunikation zu den Mitmenschen angeht. „Wenn die Eltern ständig nur am Smartphone hängen und selbst kaum persönliche Kontakte pflegen, schauen sich das die Kinder und Jugendlichen natürlich ab und verhalten sich im späteren Leben vermutlich ähnlich“, sagt Drouin.