Verschlussmarke – K.u.K. Zensurstelle Wien
ÖNB-Bildarchiv
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Gastbeitrag

Erster Weltkrieg: Wie Gefangenenpost zensiert wurde

Die Post von Kriegsgefangenen ist während des Ersten Weltkriegs systematisch überwacht worden. Strategien, der Zensur zu entkommen, waren äußerst kreativ. Um versteckte Botschaften in der Korrespondenz aufzuspüren, wurden in einer Zensurstelle in Wien eigens Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt, beschreibt die Historikerin Evelyn Knappitsch in einem Gastbeitrag.

Brief- und Paketsendungen, Telegramme und Telefonate in Österreich-Ungarn waren der Überwachung des Staates ausgesetzt. Aus logistischen Gründen konzentrierte sich die Zensur auf den internationalen Postverkehr. Systematischer Durchsicht wurde dabei vor allem die Kriegsgefangenenkorrespondenz ausgesetzt.

Abgewickelt durch das „Gemeinsame Zentralnachweisbüro des Roten Kreuzes“ (kurz „GZNB“), passierten bereits Ende des Jahres 1915 hunderttausende Sendungen pro Woche die Zensurgruppen, die die eingehende Post bearbeiteten – sortiert nach den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Kroatisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Ruthenisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ukrainisch und Ungarisch.

Evelyn Knappitsch
IFK

Über die Autorin

Evelyn Knappitsch ist Historikerin und derzeit Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.

Aufspürung versteckter Botschaften

Im Visier der Überwachung befand sich sowohl die Korrespondenz von Österreichern, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, als auch jene von ausländischen Internierten in den Lagern der Habsburgermonarchie. Aus ihrem Inhalt zog der kriegführende Staat weit mehr als nur die „Verfehlungen“ Einzelner. Die Zensurgruppen des GZNB lieferten Metadaten und Berichte; analysierten politische Stimmungen, wie die sozioökonomische Lage der Zivilbevölkerung, und überbrachten höchst erfolgreich Informationen von nachrichtendienstlicher Relevanz.

Eingezogene Texte wurden vom Zensurpersonal ins Deutsche, der gemeinsamen Armeesprache, übertragen. Doch der eigentliche Übersetzungsprozess am Schriftstück begann schon viel früher, denn die oberflächliche Mitteilung – wie das Handbuch für den Zensurdienst mit zahlreichen Beispielen warnt – entsprach selten der intendierten Aussage; diese musste erst aufgestöbert, decodiert und nach geheimdienstlicher Relevanz abgetastet werden.

Strategien der Zensur zu entkommen

Die Schreibenden planten „den Zensor“ als Dritten im (Text-)raum ein, kommunizierten direkt oder indirekt auch mit ihm; suchten nach Verstecken für ihre Botschaften und agierten dabei sehr kreativ. Verborgen in doppelten Böden falscher Orthografie oder unter dem Sichtschutz einer Briefmarke, trachteten sie danach, ihren Vertrauten einen Text hinter dem Text zu übermitteln. Die Zensurabteilungen waren angehalten sowohl materielle als auch verbale Spuren einer zweiten (Informations-)Ebene im Auge zu behalten; konnten sich geheime Nachrichten ja sowohl in blasser Zitronensaftschrift abzeichnen, oder aber verbal vergraben worden sein.

Brief mit wieder sichtbar gemachter Zitronenschrift, Kriegsarchiv
Evelyn Knappitsch
Brief mit wieder sichtbar gemachter Schrift aus Zitronensaft

Um all dies zu bewerkstelligen, wurden hermeneutisch geschulte Spezialarbeitskräfte benötigt, die nicht nur über Sprachkenntnisse verfügten, sondern – für ihren erfolgreichen Kriegseinsatz noch entscheidender – zwischen den Zeilen zu lesen vermochten, kurz: (Geistes-)Wissenschaftler. Konsequenterweise finden sich auf den Personallisten der bis zu 33 Zensurgruppen des GZNB zahlreiche Intellektuelle, Universitätsdozenten und Künstler, bekannt als Protagonisten der Wiener Moderne, die im Haus mit der Adresse Tuchlauben 8 als Wehrpflichtige oder Freiwillige, unter ihnen auch Frauen, Dienst versahen.

Die italienischen Zensurgruppen

Besonders hervorragende Arbeit wurde den italienischen Zensurgruppen zugesprochen. Hier dienten u. a. der Biologe Paul Kammerer, der Romanist Leo Spitzer, der Archäologe und Kunstsammler Ludwig Pollak, sowie der Philosoph Heinrich Gomperz, um nur vier Zensoren beispielhaft herauszugreifen. Kammerer war nicht nur Pazifist und Gruppenleiter, sondern auch der umstrittenste Biologe seiner Zeit, wie der Autor Klaus Taschwer im Buch „Der Fall Paul Kammerer“ schreibt. Gomperz hatte zuvor Freud in der „Traumdeutung“ assistiert, stand in Verbindung zum Wiener Kreis der Philosophie und war seit 1905 als Privatdozent tätig, ebenso Spitzer, der seit 1913 an der Universität Wien lehrte.

Kammerer hatte sich, drei Jahre zuvor, 1910 habilitiert. Pollak wiederum wirkte vor dem Krieg als anerkannter Kunstexperte, Privatgelehrter und korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom. In Prag geboren, war er in Folge der Kampfhandlungen unfreiwillig nach Österreich zurückgekehrt.

Zensuramt als wissenschaftliches „Laboratorium“

Anhand der erhaltenen Akten lässt sich erfassen, wie produktiv ihre Profession als Forscher in die Übersetzung und Decodierung der Post miteinfloss: Pollak überführt feindliche Offiziere mit kunsttheoretischem Wissen. Spitzer gelingt die Auflösung literarisch ambitionierter Rätsel. Gomperz nutzt seine Kontakte und zieht, wenn er nicht weiter weiß, die Romanistin Elise Richter zurate.

Vortrag

Evelyn Knappitsch hält am 22. Mai 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel "Wenn Forscher*innen zensieren. Zensur im Ersten Weltkrieg als „Kontaktzone“ und „Übersetzungsraum“; dieser findet hybrid statt.

„Kann naturwissenschaftliches Wissen für die Erforschung der Gefangenensoziologie maßgeblich werden“, fragte 1917 Paul Kammerer rhetorisch. Von der Einbringung des professionellen Wissens in die Zensurarbeit war der Weg kurz zur Betrachtung der Texte als Forschungsmaterial. Die Zensoren der italienischen Zensurgruppen wurden hierbei von sich aus aktiv.

Im Herbst 1915 beantragen knapp nacheinander Kammerer und Gomperz öffentliche Vorlesungen halten zu dürfen. Kammerer plante Lichtbildervorträge zur Arbeit der Zensurstellen in der Urania, Gomperz bat um Erlaubnis einen Vortragszyklus zur „Psychologie der Kriegsgefangenen“ im Wiener Volksbildungsverein umzusetzen. Beide Ansuchen wurde seitens des Kriegsministeriums zurückgewiesen, die Idee einer „offiziellen Wissenschaftsgruppe“, um „die zufließenden Übersetzungen soziologisch, psychologisch, ethisch, folkloristisch, kulturhistorisch auszubeuten“ schwebte jedoch bis Kriegsende im Raum.

Bahnbrechende Auswirkungen

Paul Kammerers Vorstellung „das Zensuramt […] ist – entsprechend betrieben – das zur bezeichneten Forschung notwendige Laboratorium“, blieb ein Gedankenspiel, jedoch mit bahnbrechenden Auswirkungen. 1920/21 veröffentliche Leo Spitzer seine auf der Zensurarbeit aufbauenden Texte zu „Kriegsgefangenenbriefen“ und „Die Umschreibung des Begriffes „Hunger“ im Italienischen“ mit weltweiter Resonanz. Kammer und Gomperz hatten ihre Studien bereits zuvor veröffentlicht. „Kulturen halten nicht still, um sich portraitieren zu lassen“, schrieb der US-Historiker James Clifford.

Auch die Kriegsgefangen und ihre Angehörigen suchten sich der Autorität der Zensoren zu entziehen. Wer still hielt, waren die Zensoren selbst. Festgehalten in den überlieferten Akten des Kriegsarchivs, lässt sich ein interdisziplinäres Projekt betrachten, lange bevor interdisziplinäre Forschungsgruppen etabliert waren.