Implantat, Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne
CHUV 2022 | WEBER Gilles
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Nervenstimulation

Kabellose Verbindung lässt Gelähmten gehen

Mit einer digitalen Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark ist es gelungen, einem gelähmten Patienten die Kontrolle über seine Beine zurückzugeben. Er kann selbstständig stehen und kurze Strecken zu Fuß zurücklegen. Seine Gedanken werden dabei kabellos und in Echtzeit in Bewegungen umgewandelt. Fachleute sehen in der Methode großes Potenzial – sie warnen aber auch vor falschen Hoffnungen.

Schwere Verletzungen im Bereich der Wirbelsäule können bleibende Lähmungen verursachen. Die Suche nach effektiven Behandlungsmethoden, um Betroffenen die Kontrolle über ihren Körper zumindest teilweise zurückzugeben, beschäftigt Forscherinnen und Forscher schon lange.

Ein internationales Team unter Leitung des Schweizer Neurowissenschaftlers Grégoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und dem Universitätsspital Lausanne (CHUV) machte nun vielversprechende Fortschritte bei der Behandlung gelähmter Personen und präsentiert diese aktuell im Fachjournal „Nature“.

Stimulation des Rückenmarks

Den Forscherinnen und Forschern gelang es, einem Querschnittgelähmten einen Teil seiner motorischen Fähigkeiten zurückzugeben. Der heute 40-jährige Niederländer Gert-Jan Oskam ist nicht die erste gelähmte Person, bei der das gelungen ist – die Technologie, die es ihm nun wieder erlaubt zu stehen, zu gehen und sogar Treppen zu steigen, ist laut Courtine aber etwas Besonderes und bisher einzigartig, wie er am Dienstag vor Journalistinnen und Journalisten erklärte. Zwei kabellos und in Echtzeit kommunizierende Systeme sind für den Behandlungserfolg von Oskam ausschlaggebend.

Implantat, Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne
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Gert-Jan Oskam kann nun mehrere Minuten selbstständig stehen und mit einer Gehhilfe kurze Strecken zu Fuß zurücklegen

Ein Teil der Methode beruht auf Rückenmarksstimulation. Ein implantierter Träger mit eingebetteten Elektroden gibt dabei kleine elektrische Impulse an Nervenbahnen ab, die Neuronen im Rückenmark anregen. Schon im Jahr 2018 schaffte es das Team um Courtine damit, neun gelähmten Personen einen Teil ihrer Bewegungsfähigkeit zurückzugeben.

Unzureichende Kommunikation

Die Methode wirkte zwar schon damals, besonders alltagstauglich war der Ansatz des Forschungsteams vorerst aber noch nicht. Eine effektive Stimulation des Rückenmarks konnte etwa oft nur durch das Tragen von Bewegungssensoren erreicht werden, was nicht nur umständlich, sondern auch teuer war. Außerdem waren die Patientinnen und Patienten meist nicht in der Lage, ihre Beinbewegungen spontan an unterschiedliche Untergründe und die verschiedenen Anforderungen des Alltags anzupassen.

Ein großes Problem war dabei die unzureichende Kommunikation zwischen dem Gehirn und den für die Bewegung verantwortlichen Nervenbahnen im Rücken, sagte Courtine. Bei bisherigen Rückenmarksstimulationen waren die Patientinnen und Patienten meist auf verzögerte Impulse von außen angewiesen – etwa mithilfe eines Tablets oder anderer technischer Geräte. „Das war so, als ob man erst einen Knopf drücken musste, der dann das Bein bewegt“, erklärte Courtine. Die Verzögerung in der Kommunikation machte spontane Entscheidungen für die Patientinnen und Patienten fast unmöglich.

Digitale Schnittstelle

Das Forschungsteams machte es sich daher zum Ziel, die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark zu verbessern – und zwar mithilfe digitaler Technologien. Dazu entwickelte es ein „Brain-Spine Interface“ (BSI), eine digitale Schnittstelle zwischen dem Gehirn und der Wirbelsäule.

Die Methode, mit der Oskam behandelt wurde, setzt sich aus zwei vollständig implantierten Systemen zusammen, die kabellos über diese digitale Schnittstelle kommunizieren. Neben den implantierten Neuronen beim Rückenmark bekam der Niederländer auch zwei Implantate im Bereich der Schädeldecke, die mithilfe von jeweils 64 Elektroden die neuronale Aktivität messen und die Informationen dann an eine tragbare Recheneinheit weitergeben. Mithilfe dieser Daten errechnet der Computer die gewollte Bewegung und übersetzt sie in Stimulierungsbefehle, die in Echtzeit an die Elektroden im Rückenmark weitergegeben werden. Ein elektrischer Pulsgeber und 16 kleine Elektroden stimulieren dort die Bewegungsneuronen und aktivieren so bestimmte Muskeln gezielt.

Einfacher Therapiestart

Das Implantieren der Systeme im Rücken und im Bereich der Schädeldecke ist laut dem Forschungsteam nur mit sehr wenigen Risiken verbunden. Das BSI musste aber erst kalibriert werden, um die erhofften Leistungen zu erbringen. Oskam wurde dafür gebeten, sich Bewegungen bildlich vorzustellen. Mit den Elektroden am Gehirn wurden die entsprechenden Signale gemessen. Das System wurde dann mit künstlicher Intelligenz daraufhin trainiert, die Hirnsignale in Bewegungssignale zu übersetzen.

Das Kalibrieren verlief dabei reibungslos. „Wir haben das in ein paar Minuten durchgeführt. Seither funktioniert das System zuverlässig“, sagte die an der Untersuchung beteiligte Neurochirurgin Jocelyne Bloch vom CHUV vor Medien. Eine Einschränkung: Oskam hatte schon Erfahrung mit ähnlichen Therapien – ob auch komplett unerfahrene Patientinnen und Patienten so schnell mit der digitalen Schnittstelle zurechtkommen, muss das Team erst noch in weiteren Untersuchungen klären.

„Habe Kontrolle zurück“

Für Oskam bedeuten die beiden implantierten Systeme jedenfalls mehr Lebensqualität. Vor mehr als zehn Jahren stürzte er mit dem Rad und war seitdem teilweise gelähmt. Über seine Beine hatte der Niederländer jahrelang gar keine Kontrolle und auch Teile des Oberkörpers und der Arme waren bewegungsunfähig.

Heute kann Oskam viele alltägliche Dinge selbständig erledigen. „Vor ein paar Wochen musste etwas im Haus gestrichen werden“, erklärte er etwa beim Pressegespräch und fügte hinzu: „Es war niemand da, um mir zu helfen, also habe ich es einfach selbst gemacht.“ Der Niederländer zeigte sich auch stolz, wieder stehend mit seinen Freunden ein Bier trinken zu können – ein sozialer Luxus, der ihm lange Zeit verwehrt blieb. „Bei bisherigen Methoden hatte ich das Gefühl, dass die Stimulation mich kontrolliert – jetzt kann aber ich die Stimulation kontrollieren.“

Potenzial mit Vorbehalten

Die Forscherinnen und Forscher wollen das BSI nun möglichst schnell weltweit verfügbar machen. Bevor das möglich ist, sind aber noch weitere Untersuchungen und Tests notwendig. Künftig könnte die Methode gelähmten Personen eventuell auch dabei helfen, ihre Arme und Hände wieder gezielt zu steuern.

Unabhängige Forscherinnen und Forscher sehen in der Methode Potenzial, sie warnen aber auch vor falschen Hoffnungen. „Wie immer bei solchen spektakulären Einzelberichten kann seriöserweise nicht auf eine Lösung für andere Betroffene geschlossen werden“, sagte etwa Winfried Mayr von der Österreichischen Gesellschaft für Biomedizinische Technik auf eine Anfrage des „Science Media Centers“. Zu unterschiedlich seien die Lähmungsbilder bei Querschnittlähmung und damit die Aussichten auf eine Wiederherstellung der Bewegungskontrolle. "Bei manchen Patientinnen und Patienten werden ähnliche Verbesserungen möglich sein, bei sehr vielen jedoch nicht“, so Mayr.