Graben in der Wiener Innenstadt: Frau mit Maske geht an einem geschlossenen Geschäftslokal vorbei
APA/HELMUT FOHRINGER
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Pandemie

Verschwommene Erinnerungen

Ein bisher nur wenig beachteter Nebeneffekt der Coronavirus-Pandemie: Die Zeit der sozialen Isolation erscheint in der Rückschau für viele seltsam verschwommen. Diese Wahrnehmung wurde nun auch wissenschaftlich bestätigt.

Angela Merkel beendet ihre Regierungszeit, der Brexit tritt in Kraft und das Containerschiff „Ever Given“ blockiert den Suez-Kanal. Könnten Sie diese drei Ereignisse dem richtigen Jahr zuordnen? Sollten Sie dabei Schwierigkeiten haben, dann sind Sie vermutlich nicht allein. Denn von Erinnerungslücken und chronologischen Unschärfen wird in Zusammenhang mit der Pandemie immer wieder berichtet.

Bisher fiel das alles in die Kategorie „anekdotische Evidenz“, nun gibt es im Fachjournal „Plos One“ auch eine systematische Untersuchung zu diesem Thema nachzulesen. Die Psychologin Daria Pawlak und der Psychologe Arash Sahraie von der University of Aberdeen haben eine Onlineumfrage an 277 Personen durchgeführt, in der die zeitliche Einordnung von politischen und gesellschaftlichen Ereignissen abgefragt wurde. Parallel dazu erhoben die beiden auch Kenngrößen zur psychischen Gesundheit.

Fazit der Untersuchung: Was ihnen Kollegen aus dem klinischen Alltag zuvor berichtet hatten, zeigt sich auch in der statistischen Auswertung. Die Erinnerungen an die Pandemie sind in der Tat ungewöhnlich verblasst und ungenau – in etwa so, als lägen die Ereignisse schon drei oder vier Jahre länger zurück.

Soziale Ankerpunkte verschwunden

Warum ist das so? Sahraie zufolge hat das damit zu tun, dass wir uns im Zeitstrom so ähnlich wie im Raum orientieren. So wie ein Baum, eine Kirche oder auch eine Straßenkreuzung unsere innere Landkarte strukturieren, brauchen wir auch für unsere eigene Geschichte markante Ereignisse, die das Davor und das Danach definieren.

„Wir verankern unser Leben, indem wir sagen: Das war vor dem Urlaub und das war nach dem Geburtstagsfest. Wenn man diese Erlebnisse aus dem Alltag entfernt, so wie das während der Pandemie der Fall war, dann wird die Erinnerung zu einem Brachland“, sagt Arash Sahraie im Ö1-Interview.

Besonders ausgeprägt war der Effekt bei Menschen, die unter der sozialen Isolation litten und beispielsweise Depressionen entwickelten. Das Umgekehrte gilt auch: Psychische Resilienz ging mit einem besseren Erinnerungsvermögen einher.

Parallele zu Häftlingen

Wobei noch nichts über Ursache und Wirkung ausgesagt ist. Die Zusammenhänge sind zwar statistisch festzumachen, aber eben bloß Korrelationen. Ob Depressionen den Erinnerungslücken vorausgehen oder erst dadurch entstehen, kann Sahraie nicht sagen.

In der Fachliteratur ist der Zusammenhang von monotonem Alltag und unscharfen Erinnerungen jedenfalls bekannt, ein ähnlicher Effekt wurde bereits vor Jahren bei der Untersuchung von Gefängnisinsassen festgestellt. Diese Studien zeigen auch: Mit der Rückkehr zu einem normalen Sozialleben sollte auch das Gedächtnis zur alten Frische zurückfinden.