Hermann-Göring-Werke, Linz
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Nationalsozialismus

Tödliches „Entbindungslager“ für Zwangsarbeiterinnen

Ein Durchgangslager für NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter, die u. a. in den Linzer Hermann-Göring-Werken gearbeitet haben, hat zeitweise als zentraler Entbindungsort für Schwangere gedient. Das „Durchgangslager 39“ war – außerhalb von Konzentrationslagern – der tödlichste Ort für die Kinder der Zwangsarbeiterinnen.

Unspektakuläre Mehrfamilienhäuser stehen heute auf dem Gelände im Linzer Stadtteil Bindermichl, wo sich in der Zeit des Nationalsozialismus das „Durchgangslager 39“ befand. Es gibt keine Gedenktafel, die etwa an das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erinnern würde, die hier untergebracht waren.

Das Lager diente von 1942 bis 1945 als eine Art „Marktplatz“ zur Verteilung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und wurde vom Arbeitsamt Linz betrieben, erklärt der Politikwissenschaftler Markus Rachbauer, der am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim zum Durchgangslager forscht. Die großteils aus Polen und der Sowjetunion stammenden Menschen wurden im ganzen „Gau Oberdonau“ – der Oberösterreich, das Ausseerland und Teile Südböhmens umfasste – eingesetzt: in der Landwirtschaft und in der Industrie, wie etwa in den Linzer Hermann-Göring-Werken.

Entbindungen trotz Fliegerangriffen

Wurden Frauen, die im „Gau Oberdonau“ Zwangsarbeit leisten mussten, schwanger, mussten sie die letzten Tagen vor der Geburt im „Durchgangslager 39“ verbringen. Rachbauer konnte die Namen von 1.053 Kindern eruieren, deren Mütter kurz vor der Entbindung in dem Durchgangslager untergebracht waren. Die Entbindungen fanden bis November 1943 in der Regel an der Linzer Frauenklinik und nur in Einzelfällen im Lager statt.

„Dann wurde die Frauenklinik wegen drohender Bombenangriffe von Linz nach Bad Hall verlegt“, so der Politikwissenschaftler. Das Entbinden in einer gefahrlosen Atmosphäre am Land gestand die NS-Führung nur den einheimischen Frauen zu: „Ab dann wurde das ‚Durchgangslager 39‘ zum zentralen Geburtsort für Kinder von Zwangsarbeiterinnen.“ Von den erwähnten Kindern wurden 693 direkt im Lager geboren. Erst ab Mai 1944 brachten auch Zwangsarbeiterinnen ihre Kinder in Bad Hall zur Welt. Für die Tage kurz vor der Geburt wurden sie aber nach wie vor ins „Durchgangslager 39“ gebracht – trotz Fliegerangriffen auf Linz. So kamen noch bis Kriegsende einzelne Kinder im Lager zur Welt.

ORF-Sendungshinweise

Universum History zeigt die Doku „Die Sklaven der Nazis – Zwangsarbeit im Dritten Reich“: ORF2, 9.6., 22:35
Dem „Durchgangslager 39“ widmet sich auch Wissen aktuell: Ö1, 9.6., 13:55 Uhr

„Über die Umstände, unter denen die Geburten stattfanden, gibt es leider sehr wenige schriftliche Quellen“, sagt Rachbauer: „Es gab jedenfalls medizinisches Personal. Und zum Teil dürften auch Zwangsarbeiterinnen als Hebammen eingesetzt worden sein.“ 14 dokumentierte Totgeburten lassen darauf schließen, dass gute medizinische Betreuung der Zwangsarbeiterinnen keine Priorität hatte.

„Mangelnde Pflege und schlechte Versorgung“

116 Kinder starben vor ihrem ersten Geburtstag im „Durchgangslager 39“. Die Versorgungslage für die Neugeborenen war katastrophal, so Rachbauer: „Die angegebenen Todesursachen wie ‚Lebensschwäche‘ oder mit Ernährungsstörungen in Zusammenhang stehende Ursachen lassen auf mangelnde Pflege und eine schlechte Versorgung mit Lebensmitteln schließen.“ Nicht alle verstorbenen Kinder waren im Lager geboren worden. Es wurden dort beispielsweise auch Kinder untergebracht, die in der Linzer Frauenklinik oder in Bad Hall zur Welt gekommen waren.

Sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft, Gau Oberdonau
Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK)
Sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft im „Gau Oberdonau“

Das Lager diente nämlich auch als Sammelort für „arbeitsunfähige“ Personen. Neben Menschen, die aufgrund von Krankheit, Verletzung und Alter nicht mehr ausgebeutet werden konnten, umfasste das auch Kinder. So sind weitere 26 Todesfälle von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren dokumentiert und es sind 157 Erwachsene ums Leben gekommen. Das Durchgangslager war für Kinder von Zwangsarbeiterinnen nach aktuellem Forschungsstand der tödlichste Ort außerhalb von Konzentrationslagern im „Gau Oberdonau“.

Tausende Tote in „fremdvölkischen“ Kinderheimen

Innerhalb der NS-Führung gab es keine einheitliche Linie dazu, wie mit den Kindern von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen umgegangen werden sollte, schreibt die Historikerin Gabriella Hauch. Sie hat bereits um die Jahrtausendwende die Geschichte des „Durchgangslager 39“ und der Zwangsarbeiterinnen im „Gau Oberdonau“ aufgearbeitet. Hauch zufolge gab es einen Richtungsstreit darüber, ob Kinder von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen aufgezogen werden sollten, um sie später durch Zwangsarbeit ausbeuten zu können, oder ob die „Vermehrung“ von Menschen aus Osteuropa verhindert werden sollten. Denn in der NS-Ideologie galten sie als „minderwertig“.

Dementsprechend war auch der Umgang mit den Kindern. Im März 1943 wurde in Spital am Pyhrn – ebenfalls im „Gau Oberdonau“ – das erste sogenannte „fremdvölkische“ Kinderheim im gesamten Deutschen Reich in Betrieb genommen. Es folgten 300 bis 400 weitere. Mehrere Tausend Kinder mit osteuropäischen Wurzeln starben in diesen Heimen durch mangelnde Ernährung, Pflege und Zuwendung.

Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim
Alex Limberger/ORF

Veranstaltungshinweis

Der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim begeht sein 20-jähriges Bestehen mit einem Tag der offenen Tür und einer Veranstaltungsreihe von 16. bis 20. Juni in Alkoven.

Von Linz über die Ukraine nach Kirgistan

Viele der Kinder, die im „Durchgangslager 39“ geboren wurden, wurden den Müttern weggenommen und in „fremdvölkische“ Kinderheime gesteckt. In anderen Fällen konnten die Mütter die Kinder dorthin mitnehmen, wo sie Zwangsarbeit leisteten, sagt Rachbauer: „Zum Beispiel auf einen Bauernhof. Es gab aber auch Rüstungsbetriebe mit Tagespflegestätten.“ Es kam auch vor, dass Babys, die von den Nazis aufgrund von rassistischen Kriterien als „eindeutschungsfähig“ beurteilt wurden, den Müttern entrissen und an einheimische Adoptiveltern vermittelt wurden.

Nach dem Krieg gelang es nur teilweise, dass die Mütter – sofern sie das wollten – ihre Kinder wiederfanden. „Das weitere Schicksal der Überlebenden lässt sich nur noch in Einzelfällen rekonstruieren“, so der Politikwissenschaftler. Und es war oft mit prekären Lebensumständen verbunden, wie die Geschichte von Anna T. zeigt, die im März 1944 als Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin im „Durchgangslager 39“ geboren worden war, und bis 1948 bei Pflegeeltern in Oberösterreich lebte. Die sowjetischen Behörden lehnten eine Adoption ab und Anna T. musste in einem ukrainischen Waisenheim aufwachsen. Später lebte sie in Kirgistan und es gelang ihr erst 2010 zur österreichischen Pflegefamilie und zu den leiblichen ukrainischen Verwandten Kontakt aufzunehmen.