Tabletten liegen auf sechs Löffeln.
dpa/Matthias Hiekel
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Nahrungsergänzung

Vitamine und Co.: Nur bei Defiziten sinnvoll

Eine US-Studie hat kürzlich ergeben, dass Multivitamintabletten im Alter das Gedächtnis ein wenig verbessern. Es sei dennoch nicht sinnvoll, präventiv Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, meint ein österreichischer Ernährungsexperte. Nur Menschen mit einem diagnostizierten Mangel sollten darauf zurückgreifen.

Zwanzig Wörter je drei Sekunden lang betrachten und dann so viele wie möglich aus dem Gedächtnis aufschreiben – das war eine der Aufgaben für die Versuchspersonen in der kürzlich veröffentlichten Studie aus New York und Boston. Sie waren alle über 60 Jahre und schafften im Durchschnitt rund sieben Wörter. Anschließend nahmen sie drei Jahre lang täglich entweder ein gängiges Multivitaminpräparat oder ein Placebo. Nach einem Jahr wurde wieder getestet – mit zwei überraschenden Ergebnissen.

Gedächtnis wird stärker …

Erstens war die Gedächtnisleistung nicht gesunken, wie aufgrund des gestiegenen Alters anzunehmen war. Bei der Gruppe, die Multivitamintabletten nahm, stieg sie im Schnitt um 0,7 Wörter an. Aber auch die Placebogruppe steigerte sich, und zwar erstaunlicherweise fast gleich viel: um 0,5 Wörter.

Der Zugewinn dürfte also weniger auf dem Vitaminzusatz als auf Nebeneffekten beruhen, wie Karl-Heinz Wagner vom Department für Ernährungswissenschaften der Universität Wien im Gespräch mit science.ORF.at sagt: „Besonders bei Studien, wo man etwas tun muss, hilft es, wenn man schon weiß, was kommt. Dadurch kann man die Aufgabe beim zweiten Mal besser lösen. Und man sieht deutlich, dass ein Placebo-Effekt gegeben ist.“ Auch die bloße Erwartung oder Motivation, besser abzuschneiden, spielte also eine Rolle.

… aber vielleicht nur bei echtem Mangel

Bei den nächsten Tests nach zwei bzw. drei Jahren stieg in beiden Gruppen die Leistung nur noch leicht an – bei unveränderter Einnahme. Weiterhin blieb die Multivitamingruppe ein klein wenig besser als die Placebogruppe. Wagner vermutet dazu, dass durch die Vitaminzufuhr bei manchen Menschen Mangelzustände ausgeglichen worden waren. Dies passt zu bisherigen Ergebnissen, nach denen ein Mangel der Vitamine B1 und B12 die kognitive Leistung beeinträchtigt und ein Ausgleich Besserung bringt.

Das hieße jedoch, dass die Multivitamintabletten nur jenen Menschen halfen, die tatsächlich einen Mangel hatten; und dass Vitamine nicht generell zu einem besseren Gedächtnis verhelfen. Die Blutwerte der Versuchspersonen, also eventuelle Mangelzustände und ihre Behebung, wurden in der Studie allerdings nicht erfasst.

Risikogruppen sollten testen

„In der Regel braucht die Allgemeinbevölkerung keine Nahrungsergänzung. Das zeigen viele Studien, dass das keine Wirkung hat oder eher kontraproduktiv ist. Allerdings gibt es bestimmte Risikogruppen, wo Nahrungsergänzung etwas bringen kann“, so Wagner.

„Zum Beispiel Eisen bei jungen Frauen: Da gibt es doch viele, die eine Unterversorgung haben. Oder Personen, die sich vegan ernähren: Die bekommen von bestimmten Vitaminen einfach keine ausreichende Versorgung.“ Das Vitamin B12 müsse ergänzt werden, weil es nur in tierischen Produkten vorkomme. „Wenn sie es nicht tun, dann ist das ein hohes Risiko.“

Die Vitamin-D-Versorgung bei älteren Menschen hingegen ist laut Wagner gar nicht so schlecht, weil viele bereits auf ärztlichen Rat hin ein Mittel einnehmen.

Besser gezielt als mit der Gießkanne

Generell könne bei älteren Menschen ein Mangel auftreten, weil das Verstoffwechseln der Nahrung nicht mehr so gut funktioniere. Dafür spielen unter anderem die Leber, die Niere und der Magen-Darm-Trakt eine Rolle. Vor allem bei bettlägerigen Menschen könne es auch zum Problem werden, dass sie insgesamt zu wenig essen. „Es gibt ja ältere Personen, die nehmen nur mehr 700 oder 800 Kilokalorien am Tag auf, haben aber den gleichen Nährstoffbedarf wie jüngere Menschen“, sagt Wagner.

Er empfiehlt, im Verdachtsfall immer zuerst den Status der Nährstoffe im Blut bestimmen zu lassen. „Dann sollte man zuerst versuchen, über die Nahrung auszugleichen, und dann erst substituieren – mit einzelnen Nährstoffen.“

Bedenkliche Nebenwirkungen

„Dieses ‚einfach Supplementieren‘ nach dem Motto ‚Bringt’s nichts, schadet’s nichts‘ – davon kann man wirklich abraten. Da haben die Studien gezeigt, dass das einfach schon Nebenwirkungen haben kann,“ sagt Ernährungswissenschaftler Wagner.

Solche Nebenwirkungen wurden auch in der aktuellen Studie erhoben: In der Multivitamingruppe kam es während der Einnahmezeit laut eigenen Angaben häufiger zu Blutungen im Magen-Darm-Trakt als in der Vergleichsgruppe. Dafür verbuchte man weniger Bauchschmerzen, Durchfall, Hautausschläge und Schürfwunden.

Die österreichisches Ernährungsagentur AGES rät kranken Menschen, ihre Nahrungsergänzung unbedingt mit Hausarzt bzw. -ärztin zu besprechen. Wechselwirkungen mit Medikamenten können auftreten.

Lebensmittel oder Medikament

Wer nachgewiesenermaßen ein Präparat braucht, muss entscheiden, ob er zu einem Nahrungsergänzungsmittel oder einem Medikament greift. Vitaminpräparate gibt es nämlich durchaus auch als Medikament, zum Beispiel die sehr bekannten Vitamin-D-Tropfen.

„Der Unterschied zwischen Medikament und Supplement ist sehr eindeutig“, erklärt Wagner. „Ein Medikament braucht ungefähr zehn Jahre, bis es zugelassen ist – mit unterschiedlichen Studien von in vitro bis zu Studien am Menschen. Ein Nahrungsergänzungsmittel hingegen wird wie ein Lebensmittel zugelassen.“ Eine Wirksamkeitsprüfung brauche es dafür nicht.

Wagners Faustregel für Laien: „Wenn man in eine Apotheke reinkommt, dann sind die Medikamente alle im hinteren Bereich, und alles, was man sieht, sind Nahrungsergänzungsmittel.“

Der Ernährungswissenschaftler erinnert auch daran, parallel zur Einnahme immer wieder kontrollieren zu lassen, was von den Vitaminen im Blut angekommen ist. Denn das sei keineswegs bei allen Menschen gleich.