Das bisher älteste bekannte Fragment eines Buches in Codex-Form dürften Forschende der Universität Graz entdeckt haben: Sie sind auf ein Papyrusfragment aus dem 3. Jhdt. v. Chr. gestoßen, das Spuren einer Heftung zeigt.
APA/UNI GRAZ/KERNASENKO
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Papyrus

Vermutlich ältestes Fragment eines Buches entdeckt

Das bisher älteste bekannte Fragment eines Buches in Kodexform dürften Forschende der Universität Graz entdeckt haben: Sie stießen auf ein Papyrusfragment aus dem dritten Jahrhundert vor Christus, das Spuren einer Heftung zeigt. Bisher früheste bekannte Belege für eine Heftung in Buchform reichen etwa 400 Jahre später zurück.

Buchrestauratorin Theresa Zammit Lupi präsentierte am Donnerstag ein Papyrusstück in der Größe von 15 mal 25 Zentimetern, anhand dessen möglicherweise die Geschichte der Textüberlieferung – und speziell die Buchgeschichte – korrigiert werden wird.

Das Fragment stammt aus der Sammlung der Universitätsbibliothek Graz. Es dürfte der Rest eines Notizbuches aus dem dritten Jahrhundert vor Christus sein. Ein Bindfaden lieferte der Restauratorin den Hinweis, dass es sich um ein Buchfragment handeln könnte.

Die Buchrestauratorin staunte nicht schlecht, als sie im Mai bei Routinearbeiten das Stück aus der Sondersammlung der Universität Graz erstmals vor sich hatte, wie sie erzählte: „Zuerst sah ich ein Stück Faden, erst dann bemerkte ich das Format eines Buches. Ich sah einen zentralen Falz, die Heftlöcher und den geschriebenen Text innerhalb klar definierter Ränder auf dem Papyrus. Als Restauratorin fühlt es sich ganz besonders an, wenn man auf so eine Entdeckung stößt und einen Baustein in der Geschichte des Buches beisteuern kann. Im ersten Moment kann man es einfach nicht glauben“, sagte Zammit Lupi noch immer emotional bewegt.

Fund aus Ägypten

Bisher wurde angenommen, dass die Buchform im zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung entstanden ist. Laut den Grazer Spezialisten werden die frühesten Belege für eine Heftung in Buchform bisher in die Zeit zwischen 150 und 250 datiert und lagern in der British Library und der Chester Beatty Library in Dublin. „Das Grazer Mumienbuch entstand 400 Jahre früher und ist damit bis heute die älteste erhaltene Form eines Buches, die wir kennen“, so Erich Renhart, Leiter der Sondersammlungen an der Grazer Universitätsbibliothek, bei der Präsentation.

Das Papyrusfragment wurde vor mehr als 100 Jahren bei einer Grabung in der ägyptischen Nekropole von Hibeh (heute al-Hiba) südliche von al-Fajum entdeckt. Als man es fand, bedeckte es eine Mumie in einem Sarkophag. Seit 1904 befindet es sich an der Universität Graz und gehört zu einer 52 Objekte umfassenden Sammlung von Papyri, die aus der Ptolemäerzeit (350 bis 30 v. Chr.) stammen.

Notizbuch für Rechnungen

Laut den Archäologen, die den Fund bereits 1906 publizierten, handelte es sich ursprünglich um ein Doppelblatt aus einem Notizbuch, auf dem um 260 vor Christus Rechnungen für Bier- und Ölsteuer in griechischer Sprache festgehalten wurden. Die Datierung erfolgte aufgrund der Fundsituation, der Paläografie sowie der Ikonografie der Mumie.

Auch die Farben und der Stil des Dekors sowie der Schreibstil des Textes würden in die späte ptolemäische Zeit passen. Aus Sicht der Grazer Forscher und Forscherinnen deutet damit vieles darauf hin, dass es schon in ptolemäischer Zeit Bücher in Kodexform gab – und man in Graz das älteste bisher bekannte diesbezügliche Fragment liegen hat.

Das bisher älteste bekannte Fragment eines Buches in Codex-Form dürften Forschende der Universität Graz entdeckt haben: Sie sind auf ein Papyrusfragment aus dem 3. Jhdt. v. Chr. gestoßen, das Spuren einer Heftung zeigt.
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Das Fragment

Nun ist man auf die Diskussion in der Fachcommunity gespannt: „Noch dieses Jahr im Herbst werden wir internationale Spezialistinnen und Spezialisten zu einer Tagung nach Graz einladen, um das Buchfragment und daraus gewonnene neue Erkenntnisse zu erörtern“, kündigte Renhart, auch Leiter des Forschungszentrum Vestigia, an. „Es wird dazu kommen, dass die Geschichte der Anfänge des Buches neu überdacht wird“, zeigte sich Renhart überzeugt.

„Der Kompetenz des Teams der Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz ist es zu verdanken, dass ein frischer Blick auf bereits lange Zeit bekannte, digitalisierte Objekte zu neuen Erkenntnissen führte“, sagte Pamela Stückler, die Leiterin der Universitätsbibliothek Graz.

Neuer Blick auf Fragmente

„Der Fund wird den Blick, wie wir auf Fragmente blicken, ändern“, zeigte sich auch Zammit Lupi überzeugt. Sie studierte Kunstgeschichte an der Universität Malta und Buch- und Papierrestaurierung in Florenz und London. 2009 promovierte sie an der University of the Arts London im Bereich der Restaurierung von Manuskripten. 2017 war sie Forschungsstipendiatin an der Harvard University. Zammit Lupi hat in Malta, Italien, dem Vereinigten Königreich, der Schweiz, Ägypten und Äthiopien gearbeitet und in mehreren Ländern Konservierung und Kodikologie unterrichtet. Seit 2021 ist sie leitende Restauratorin in den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek der Uni Graz.

Die Bibliothek der Universität Graz ist mit mehr als vier Millionen Medien die drittgrößte Bibliothek Österreichs. 2019 wurde sie umfassend erweitert und modernisiert. Die Sondersammlungen bewahren einen Großteil des schriftlichen Erbes des Herzogtums Steiermark sowie weitere wertvolle Bestände. Mit rund 300.000 Objekten gelten sie – nach der Nationalbibliothek – als die zweitgrößte Sammlung dieser Art in Österreich.

Schonende Digitalisierung

Die Sondersammlungen sind als Kompetenzzentrum für die Digitalisierung und Restaurierung kostbarer Handschriften und Bücher anerkannt: Die in Graz entwickelte Technologie zur schonenden Digitalisierung wertvoller Bestände wird unter anderem von der Harvard University und der British Library genutzt. Angebunden an die Sondersammlungen ist das Vestigia-Zentrum für die Erforschung des Buch- und Schrifterbes, das sich der wissenschaftlichen Erschließung alter Schriften widmet. Dazu zählen die Bestände an der Uni Graz ebenso wie bisher unbekannte oder unzugängliche Sammlungen insbesondere aus Süd- und Osteuropa. Die Bestände werden erfasst, restauriert, konserviert, digitalisiert und ediert, um sie für weitere Forschungen zugänglich zu machen.