Zwischen Mad Max und Marx

Kriege, Krisen und Konsorten: Die Welt ist derzeit in keinem guten Zustand. Um sie besser zu verstehen hilft es Karl Marx zu lesen. Das sagt der Historiker Moishe Postone, einer der profiliertesten Marx-Kenner der Gegenwart. Für die Zukunft ist er dennoch pessimistisch.

Entweder gelinge es eine Gesellschaft zu errichten, in der das Einkommen nicht mehr von Arbeit abhängt, oder eine neue Barbarei wird kommen, die in Filmen wie „Mad Max“ bereits skizziert wurde.

science.ORF.at: Die Weltlage ist derzeit ziemlich düster und verrückt – und jetzt gibt es auch noch die möglichen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und Bernie Sanders, der linkeste Kandidat seit Langem. Sind die beiden ein Zeichen für die Verrücktheit unserer Zeit?

Zur Person

Moishe Postone ist Professor für Moderne Geschichte an der University of Chicago und derzeit City of Vienna/IFK_Fellow am IFK Kunstuniversität Linz in Wien.

Moishe Postone: Ja, das sind sie (lacht) – und sie sind Ausdruck einer langjährigen strukturellen Krise in den USA, die viele Leute gar nicht wahrgenommen haben. Die US-Gesellschaft ist mehrfach gespalten: geografisch in Ost- und Westküste gegenüber dem Rest, und sozial – die Ungleichheit nimmt zu. Der Durchschnittslohn der amerikanischen Arbeiter ist seit 1973 gleich geblieben. Das ist jahrelang verdeckt worden durch die Hypotheken auf die Häuser, von denen die Menschen gelebt haben – nicht nur um das Haus zu finanzieren, sondern auch den Urlaub, das tägliche Leben – alles, was man mit dem eigenen Gehalt nicht mehr bezahlen konnte. Das hat die strukturelle Krise für viele Leute verdeckt. Aber jetzt geht das nicht mehr. Sowohl Trump als auch Sanders sind Ausdruck von einem großen gesellschaftlichen Zorn. Sie drücken sich anders aus. Aber es gibt Arbeiter, die nicht ganz sicher sind, ob sie Sanders oder Trump wählen würden.

Das führt zu der alten Entscheidung: Macht man „die Ausländer“ verantwortlich für die eigene Lage – in dem Fall: „die Mexikaner“ – oder „die Reichen“ …

Genau. Bei Trump sind es aber nicht nur „die Mexikaner“, sondern auch der globale Handel – verkürzt gesagt also „die Chinesen“.

Und die Muslime?

Ja, aber das ist eine andere Sache. Die Muslime sind nicht mitverantwortlich für den Abstieg der USA, sondern stellen nach Ansicht von Trump und seiner Anhänger eine Bedrohung dar, die so groß ist wie die der Sowjetunion früher.

Wie werden die Wahlen ausgehen?

Ich weiß es nicht. Vermutlich wird Clinton die demokratische Kandidatin werden. Sie ist aber sehr verwundbar wegen ihrer Beziehungen zur Wall Street. Zudem gibt es sehr viele Junge, die von Sanders begeistert sind. Sie sehen keinen Unterschied zwischen Clinton und den Republikanern und würden sie nicht wählen, wenn sie nominiert wird – was letztlich eine Entscheidung für Trump wäre. Wenn genug Leute nicht zur Wahl gehen, könnte es sein, dass Trump wirklich gewinnt. Was ein Desaster wäre. Cruz ist allerdings ebenso schlimm.

Wie viel Karl Marx steckt in Bernie Sanders?

Das weiß ich nicht. Er ist ein kluger, aufrichtiger und mutiger Mann. Sich in den USA „Sozialist zu nennen“ erfordert Mut. Und er ist sehr erfolgreich: Die vergangenen drei Monaten hat er mehr Spenden gesammelt als Clinton, und all das Geld stammt von Kleinspendern. Man braucht kein Marxist zu sein, um in einem weiteren Sinne in den USA Sozialist zu sein.

Seit 40 Jahren sind die Einkommen in den USA nicht gewachsen, sagen Sie: Das wäre ein Anlass für die älteren Arbeiter Sanders zu wählen. Es sind aber viele Junge – was macht den 74-Jährigen für diese Jungen so attraktiv?

Sowohl Unterstützer von Sanders als auch von Trump glauben, dass diese ehrlich sind. Die meisten denken, dass die ganze Politik verlogen ist. Und da ist es ein erleichternder Gedanke, dass jemand einfach ehrlich ist. Wobei: Sanders ist ehrlich, Trump einfach blöd. Bei ihm gibt es keine Distanz zwischen Hirn und Zunge, und das finden einige Menschen toll. In gewisser Hinsicht ist er auch eine Rache des Internet.

Wie meinen Sie das?

Denken Sie an die Kommentare im Internet – die meisten von ihnen sind schrecklich, teilweise weil sie anonym sind und Menschen Dinge schreiben, die sie öffentlich oder face to face nie sagen würden. Das ist zu einem neuen Habitus geworden. Trump hat ihn. Er ist wie die Internet-Kommentatoren, die ihren Missmut auskotzen, ihre unmittelbaren Gefühle und Vorurteile. Die normalen sozialen Bremsen funktionieren bei ihnen nicht und auch nicht bei Trump.

Können Sie jungen Menschen heute empfehlen Marx zu lesen – etwa die drei Bände des Kapitals, die doch ziemliche Schwarten und nicht einfach zu verstehen sind. Zahlt sich das aus?

Kommt darauf an, Studenten kann ich das empfehlen. Ich tu das auch, und das hat großen Zulauf.

Warum?

Weil sich zumindest einige der Studenten mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzen wollen. Ein Problem in den USA ist, dass es eine sehr starke Spaltung zwischen Aktivisten und Intellektuellen gibt. Für Aktivisten ist alles klar: Es gibt Unterdrücker und Unterdrückte, Ausgeschlossene und Eingeschlossene, eine eindeutige Identitätspolitik – dafür braucht man weder Empirie noch Theorie. Aber es gibt auch diejenigen, die das nicht so sehen und dennoch keine Informatiker oder Banker werden wollen. Sie wollen die Gesellschaft verstehen, und für diese bieten Marx und die Frankfurter Schule etwas. Die drei Bände des Kapitals würde ich aber nicht für Anfänger empfehlen, das ist etwas für graduierte Studenten.

Was versteht man mit Marx-Lektüre heute besser über die Gesellschaft als ohne?

Veranstaltungshinweis

Am 6.4. hielt Moishe Postone einen Vortrag mit dem Titel „History, temporality and the dual crisis of capitalism“.

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kunstuniversität Linz Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Eine schwierige Frage, weil es darauf ankommt, durch welche Linse man Marx betrachtet. So wie ich ihn lese, kann er dabei helfen, die strukturellen Veränderungen der Gesellschaft zu verstehen – etwa, dass es trotz Leuten wie Bernie Sanders kein Zurück mehr geben kann ins Goldene Zeitalter des Kapitalismus in den 60er Jahren. Man kann „Vollbeschäftigung“ und „Würde der Arbeit“ heute nicht mehr plausibel fordern. Wir gehen heute in eine Richtung, wo es zunehmend überflüssige Menschen gibt, überall. Wir stehen vor einer riesigen Doppelaufgabe. Erstens die bevorstehende Umweltkatastrophe, der sich viele Leute bewusst sind. Zweitens die gesellschaftliche Katastrophe. Wir müssen entweder neue gesellschaftliche Formen finden, mit denen die Reproduktion nicht mehr über den Austausch von Arbeit vermittelt ist. Oder wir verfallen in eine neue Barbarei, wo immer weniger arbeiten und immer mehr ein Proletariat im alten römischen Sinn bilden, d.h. ein Proletariat ohne Arbeit, für das man Brot und Spiele bereithält.

Das klingt eher negativ. Der Kapitalismus war doch immer sehr wandlungsfähig und kreativ. Kapitalisten sagen heute: OK, es gibt Probleme, dann müssen wir halt noch produktiver und kreativer sein, neue Ideen und Produkte entwickeln, neue Märkte erschließen und Freihandelsabkommen unterzeichnen, dann wird schon alles gut …

Ja, aber es wird nicht mehr alles gut. Sogar Mainstream-Ökonomen merken langsam, dass sie das, was sie mit der Muttermilch eingesogen haben – „wenn sich Sachen verändern, gibt es kurzfristig gesellschaftliche Erschütterungen, aber dann wird alles gut“ –, nicht mehr stimmt. Vor 100 Jahren war das anders: Als etwa die Hersteller von Kutschen plötzlich keine Arbeit mehr hatten, weil die Autos aufkamen, konnten sie in Autofabriken arbeiten. Die neuen Fabriken stellen aber keine Leute mehr an, weil sie in erster Linie von Robotern betrieben werden.

Wie geht das weiter?

Ich habe keine Grundrisse für eine neue Gesellschaft. Der alte Marxismus des Proletariats hatte die implizite Annahme, dass sich die proletarische Arbeit immer mehr erweitert und dass man eine Gesellschaft von Werktätigen hat. Die Frage war dann politisch, ob es demokratische Formen davon gibt – den demokratischen Sozialismus – oder nicht. Das war bewusstseinsmäßig einfacher, d.h. es gab eine Linie zwischen den alltäglichen Arbeitskämpfen und diesen Vorstellungen.

Man konnte miteinander streiten, ob Reform oder Revolution besser seien, aber sie waren auf einer Linie. Heute aber gibt es einen Bruch: Wie man damit umgeht, da bin ich nicht sicher, aber es bedarf sicher vieler Versuche. Ein Versuch könnte sein, die Arbeitszeit zu verkürzen. Wenn man die schrumpfende Arbeit verteilt, ist das besser, als wenn der Anteil der Werktätigen schrumpft. In den USA gibt es Leute, die es hochjubeln, dass man in der Früh Putzfrau ist, zu Mittag Uber-Fahrer und abends Barmann – also drei Jobs macht. Langsam merkt man, dass diese flexiblen Arbeitsformen zu einem miserablen Leben führen. Dann gibt es noch die Idee des allgemeinen Grundeinkommens.

Wird der Kapitalismus mit einem großen Wums zusammenbrechen?

Nein, das glaube ich nicht. Marx hatte zwar Recht mit seiner Annahme, dass sich der Kapitalismus seiner eigenen Grundlagen beraubt, dass er die Voraussetzungen für sein Ende schafft. Aber ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine letzte finale Krise gibt. Der Kapitalismus wird nicht kollabieren, sondern mit immer weniger Leuten auskommen. Die politischen und gesellschaftlichen Folgen werden desaströs, selbst wenn wir das Klimadesaster nicht hätten - ich denke da an Dystopien wie im Film „Mad Max“.

Wie sieht es mit dem Bewusstsein der US-Arbeiter heute aus?

Ein Problem ist, dass die schrumpfende US-Arbeiterklasse sehr viele Ressentiments hat. Viele meinen, dass der Aufstieg der Bürgerrechts- und Frauenbewegung mit ihrem eigenen sozialen Abstieg zusammenhängt. Der Kurzschluss ist, dass sie US deshalb so leiden, weil den Schwarzen so viel gegeben wird.

Und den Frauen?

Sie hassen Frauen, aber Schwarze viel mehr. Unter den Evangelikalen, die Cruz und Trump unterstützen, ist die Frage der Homosexuellenehe bei Weitem nicht so wichtig wie Fragen der Rasse. Was nicht heißt, dass sie alle Rassisten sind. Aber die Erklärung ist verbreitet, dass die mehr kriegen und wir weniger – und zwar ohne etwas zu tun.

Bürgerrechts- und Frauenbewegung waren auch Projekte der Linken: War es historisch ein Fehler, sich so auf Identitätspolitik zu konzentrieren und soziale Fragen zu vernachlässigen?

Das ist eine sehr komplizierte Frage, weil die Bürgerrechtsbewegung nicht identitätspolitisch angefangen hat. Das war ursprünglich eine militante Bewegung für Gleichberechtigung. Aber ein Teil der jungen Schwarzamerikaner hat sich um 1966 in eine nationalistische, identitätspolitische Richtung entwickelt. Die ersten Leute, die für das Recht argumentiert haben, Waffen zu tragen, waren die Black Panthers. Die Schusswaffenvereinigung NRA hat darauf reagiert. Viele der Revolutionäre haben nicht daran gedacht, dass ihr Handeln mögliche Folgen haben könnte.

Das war der Beginn einer Identitätspolitik, die bis heute sehr erfolgreich ist. Sie dominiert in der akademischen Linken, ebenso Ansätze von Postmoderne und Dekonstruktion. Das scheint alles viel anziehender als marxistische Ansätze: Warum?

Weil es für viele keine bedeutsame Gesellschaftstheorie mehr gibt. Der angelsächsische Marxismus ist erbärmlich ökonomistisch, er kennt kaum gesellschaftliche oder kulturelle Momente. Es gibt zwar die Richtung des Political Marxism um Robert Brenner und Ellen Wood. Aber auch sie hat ein sehr enges Verständnis von Kapitalismus. Im Gegensatz dazu scheint Identitätspolitik sehr anziehend: Sie ist anschaulich, da gibt es persönliche Betroffenheiten und konkrete Lebensumstände, die man verbessern kann.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: